محمد مجتهد شبستری : قرآن تنها به مثابۀ یک پدیدار انسانی، متن زمینی، تاریخی و اجتماعی قابل فهم و تفسیر است ولاغیر.
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متن آلمانی مقاله [قرائت نبوی از جهان (1)] بخش اول
این متن در ژانویه ۲۰۰۹ توسط دکتر مجتهد شبستری برای دانشجویان دانشکده حقوق دانشگاه وین(اتریش) تدریس شده است.
Prophetische Lesart der Welt
Mohamad Modjtahed Schabestari
Liest man den Text des Korans im Sinne eines historischen Zeugnisses, wird verständlich: für den Menschen, von dessen prophetischer Sendung darin die Rede ist, ist der Koran göttlichen Ursprungs und doch versteht er den Text zugleich als sein eigenes Wort. Obschon sie dessen eigene, menschliche Worte sind, haben sie doch einen göttlichen Ursprung. Der Prophet hat keineswegs behauptet, dass dieser Text nicht sein Wort wäre. Wobei man darauf zu achten hat, dass das ‚Wort des Menschen’ nicht nur einen bestimmten ‚Sinn’ meint, dass also nicht nur Bedeutungsgehalte das Wort ausmachen, ebenso wenig wie auf der anderen Seite ein Wort nur einen äußeren Wortlaut, ein äußeres Zeichen meint. Vielmehr bestehen menschliche Worte aus beidem: aus Bedeutungsinhaltenund äußeren Zeichen, die zusammen in einem Gesamtgefüge von Äußerungen entstehen, das wir als Sprache bezeichnen. Würde man einem Menschen bloß die Inhalte zuschreiben oder nur die äußeren Wortlaute, hätte man ihm nicht das zugeschrieben, was wir unter ‚Wort’ verstehen. Hat der Prophet deshalb das Wort als sein Wort bezeichnet, so hat er damit sowohl dessen Inhalt wie auch dessen äußere Gestalt sein eigen genannt. Das Wort steht für ihn im Zeichen eines Gesprächs, in dem er selber als Sprecher fungiert. Doch will er dies nicht so verstanden wissen, als hätte er sich selbst dafür entschieden. Nein, er war dabei getragen von der Erfahrung, dazu von Gott erwählt und zum Gesandten erhoben zu sein. Und dies aufgrund einer transzendenten sprachlichen Hilfe, die man als ‚Offenbarung’ bezeichnet hat. Auf solche Weise war er durch Gottes Kraft und Einfluss befähigt, zu Menschen zu sprechen. So kommt es, dass, was er spricht, âyât (namûd: Symbole bzw. Zeichen, Hinweise) Gottes sind. Die Bedeutung von âyât werde ich später noch eingehender erläutern; denn sie kommen von Ihm und weisen auf Ihn hin.
Wir gehen demnach bei unseren Ausführungen von zwei Thesen aus.
Die erste These lautet, dass man den Koran (die erhabene Schrift) im Lichte der Ergebnisse der Sprachphilosophie der letzten 200 Jahre als einen arabischsprachigen, für alle (Gläubige wie Nichtgläubige) verständlichen Text dem Wort eines Menschen, nämlich des Propheten des Islams, zuschreiben muss. Würde man diesen Text mit den Merkmalen eines arabischen Textes unmittelbar und direkt Gott zuordnen, stünde das nicht nur faktisch, sondern prinzipiell im Widerspruch zu seinem Wesensmerkmal ‚für alle verständlich zu sein’.
Die zweite These besagt: Die beherrschende, zum Glauben aufrufende literarische Gattung der koranischen Verse ist Erzählung und Überlieferung. Der Koran stellt eine monotheistische Lesart der Welt dar, die sich auf der Grundlage einer hermeneutischen Erfahrung prophetischer Art herausgebildet hat. Es gibt darin auch andere Textgattungen prophetischer Erfahrungen, die also in einer anderen Art als in Erzählung und Überlieferung weitergegeben wurden. Doch wird durch sie in ähnlicher Weise der Inhalt jener hermeneutischen Erfahrung gleichfalls erweitert und bereichert. Der Koran begründet somit eine monotheistische Lesart der Welt und stellt keine Sammlung von Wahrheiten über die Befindlichkeiten des Seins dar. Der Ausdruck „hermeneutische Erfahrung prophetischer Art“ hat sich in diesem Beitrag aus den Untersuchungen des Textes der Erhabenen Schrift ergeben und wird meines Wissens hier zum ersten Mal in der persischen Sprache verwendet.
Die erste These ist vor dem Hintergrund der zeitgenössischen philosophischen Hermeneutik (in deren allgemeinster Bedeutung im Unterschied zur dogmatischen Hermeneutik) zu verstehen, während die zweite These literaturwissenschaftlicher Art ist. Die erste These kann nicht als Fortsetzung des Streits der früheren Theologen über Wortlaut und Bedeutung des Korans gesehen werden, über die Fragen seines Gewordenseins und seiner Ewigkeit und seines Alters, seines Erschaffen- oder Unerschaffenseins, und ähnliche Fragen. Sie hat es als zeitgenössische hermeneutische These philosophischer Art mit der Wahrheit des Verstehens und der Methode des Verstehens zu tun. Natürlich standen die Auseinandersetzungen der früheren muslimischen Theologen über Fragen des Korans nicht im Zeichen der zeitgenössischen philosophischen Hermeneutik. Doch befähigt nur die Kenntnis der grundlegenden Einsichten der modernen philosophischen Hermeneutik zu einer zustimmenden oder ablehnenden Stellungnahme zur Aussage der ersten These. Mit anderen Worten, eine solche Stellungnahme wird nicht möglich sein, wenn man nur mit den Auffassungen der früheren muslimischen Theologen vertraut ist. In ähnlicher Weise wird man die zweite These nur im Lichte der Literaturwissenschaften beurteilen können.
1. Der Text des Korans – und die zeitgenössische Sprachphilosophie und Hermeneutik
Beginnen wir damit, dass wir unsere ganze Aufmerksamkeit einem arabischsprachigen Text zuwenden, einem Text, der als ‚Koran’ vor uns liegt. Diese Aufgabe soll im Lichte der Hermeneutik und der hermeneutischen Sprachphilosophie angegangen werden. Wie können wir also diesen Text – als einen arabischsprachigen Text – verstehen?
In der modernen Sprachphilosophie – in ihrem analytischen und nichtanalytischen Zweig – geht es um Fragen, deren wichtigste hier angesprochen werden sollen:
Ist die menschliche Sprache eine Sammlung von Zeichen?
Ist Sprache das Medium, mit dessen Hilfe der Mensch sein Menschsein verwirklicht? Ist Sprache „das Haus des Seins“?
Beherrscht der Mensch die Sprache oder die Sprache den Menschen?
Welche Funktionen hat die Sprache?
Welches sind die tragenden Elemente der Sprache in ihrem Vollzug? Wer ist erstens der Sprecher, zweitens der Adressat, wie steht es drittens um den Kontext, viertens um die Zugehörigkeit zu einer Sprachfamilie und fünftens um die Inhalte der Sprache?
Ist die Sprache ein natürliches Phänomen oder beruht sie auf einer konventionellen, gesellschaftlichen Vereinbarung?
Welche Kriterien finden sich für die Richtigkeit der Sprache oder ihre Unrichtigkeit?
Was ist der Sprache der Menschen und der Sprache der Tiere gemeinsam und worin unterscheiden sie sich?
Weitere Elemente sind mit der Ordnung der Sprache und ihrem Ordnungssystem gegeben, mit der Struktur der Sprache, dem Sprachsystem und mit der Relevanz der syntaktischen und semantischen Regeln für den Bedeutungsgehalt der Sprache. Darüber hinaus geht es um die Abhängigkeit der Sprache von der jeweiligen geschichtlichen Situation, in deren Kontext man die Entstehung eines sprachlichen Textes zu verstehen suchen muss, um das, was wir mit dem Begriff des ‚Sprachspiels’ meinen und um die verschiedenen Formen des menschlichen Lebens.
Ein wichtiger Fragenbereich bezieht sich auf das, was mit dem Begriff der ‚Bedeutung’ gemeint ist: Wie steht es um die modernen Theorien über die Bedeutung, um das Verhältnis von Sprache und Denken, von Phonem und Begriff.
Wie ist das Verhältnis von Sprache und allgemeinem Intellekt zu bestimmen? Inwiefern bestimmt die geschichtliche Bedingtheit der einzelnen Bedeutungsgehalte die Geschichtlichkeit der Sprache? Gibt es semantische Wandlungen von Texten und was sind ihre Ursachen? Inwiefern ist die Bedeutung eines bestimmten Satzes aus der Zeit heraus zu verstehen, in der er gesprochen oder geschrieben wird? Und wie ist dann ein Satz neu auszulegen, wenn man seiner ursprünglichen Bedeutung gerecht werden will?
Bei alledem geht es um das Verhältnis von Erkenntnis, Sprache und Wirklichkeit, um die Rolle der Sprache bei der Gestaltung der Wirklichkeit und um deren Erkenntnis, um die pragmatischen Strukturen der Sprache also: um das Sprechen als ‚Sprechakt’ und um die verschiedenen Arten von Sprechakten, um appellative, wertende oder normative Funktionen der Sprache, um Sprache als Mittel der Kommunikation und um den Einfluss der Sprache auf die Gesellschaft.
2. Der Koran – offen für das Verständnis aller, und der menschliche ‚Sprecher’ des Korans
Es gehört zu den wichtigsten Einsichten der Sprachphilosophie, dass die Textwerdung in einer menschlichen Sprache ohne einen menschlichen ‚Sprecher’ nicht möglich ist – ohne einen Sprecher, der kein Lautsprecher oder ein beliebiger Tonträger ist, wie etwa ein Tonband oder eine Schallplatte. Was wir aus unserer Erfahrung wissen, gilt es hier unbedingt festzuhalten: es ist immer ein Mensch, der spricht, der bestimmte Worte sagt; es ist immer ein Mensch, der als Subjekt des Sprechaktes fungiert und dabei, indem er alle Voraussetzungen und Vorbedingungen des Sprechens wie insbesondere seine intellektuellen Fähigkeiten aktiviert, die persönliche Verantwortung für das übernimmt, was er sagt.
Die Annahme eines wirklichen ‚Sprechers’ (eines Menschen) im Zusammenhang mit einem Text in menschlicher Sprache impliziert somit das wichtigste Vorverständnis, die wichtigste Voraussetzung für das Verstehen eines Textes. Mit Verstehen (fahm) meinen wir hier ein allgemein zugängliches, intersubjektives Verstehen, das für einen Gläubigen ebenso wie für einen, der nicht glaubt, offen steht. Um ein solches Verstehen möglich zu machen, ist es unserer Meinung nach unabdingbar, dass der Text der Erhabenen Schrift ebenso wie alle anderen Texte, einen menschlichen ‚Sprecher’ gehabt hat.
Die Annahme, dass dieser Text in seinem ganzen Wortlaut, in allen Sätzen und Inhalten, direkt und unmittelbar Wort Gottes ist, das dem Propheten übergeben worden ist und das dieser nach Art eines Tonträgers weitergegeben hat, würde den Text als eine geschriebene Rede unverständlich sein lassen.
An dieser Stelle möchte ich klarstellen, dass damit nicht behauptet werden soll, es sei notwendig, den Sprecher zusehen, um sein Wort verstehen zu können. Es soll nur gesagt werden, dass für den Adressaten ein menschlicher Sprecher notwendig ist, um ein Wort für ihn verständlich werden zu lassen. Ist kein Sprecher da, kann auch kein Wort zum Adressaten kommen. Die Texte früherer Zeiten können wir verstehen, obwohl wir ihre Autoren nicht sehen. Doch verstehen wir sie aufgrund der Annahme, dass ihre ‚Sprecher’ bzw. Schreiber Menschen waren, deren Existenz und Sprache wir postulieren können.
Man kann sich natürlich auf den Standpunkt stellen, dass nur die Gläubigen den Koran verstehen und dass diejenigen, die nicht glauben, diesen Text überhaupt nicht verstehen. Doch stellen sich dabei vor allem zwei Probleme.
Das erste Problem besteht darin, dass alles, was von den Vertretern dieser Meinung ‚Verstehen’ genannt wird, in Wahrheit kein Verstehen ist. In der Tat, ist etwas prinzipiell nicht für das Verstehen aller zugänglich, ist es gar nicht verständlich. Wir meinen in diesem Zusammenhang unter ‚Verstehen’ jene rationale Erkenntnis, von der in der modernen philosophischen Hermeneutik (in deren allgemeinster Bedeutung) gesprochen wird. Diese Erkenntnis ist intersubjektiver Art, eine Erkenntnis also, über die man mit anderen, Gläubigen oder Nichtgläubigen, sprechen kann und von der man sagen kann, wie sie zustande kommt. Man kann auf argumentativer Ebene zeigen, wo und warum ein Verstehen sich als wahr erweist, während dies in einem anderen Fall nicht zutrifft, wie mit anderen Worten zwischen Verstehen und Missverstehen unterschieden werden kann. Wo ein solcher Diskurs nicht möglich ist, kann man füglich nicht von Verstehen sprechen. Unter dieser Annahme kann ein Gläubiger nicht mit anderen, die nicht gläubig sind, über sein Verstehen der Erhabenen Schrift auf einer rationalen Grundlage sprechen: er kann den Prozess seines Verstehens für die anderen nicht plausibel machen, kann keine Argumente für die Voraussetzungen oder für die Richtigkeit seines Verstehens anführen, und ähnliches mehr. Unter dieser Annahme gibt es demnach kein Verstehen.
Das zweite Problem besteht darin, dass aus dem Text des Korans eindeutig hervorgeht, wie zwischen dem Propheten und seinen Adressaten (den Adressaten des Korans) – ob dies nun Gläubige waren oder Ungläubige – viele Gespräche und Diskussionen stattfanden, Übereinkünfte erzielt oder Meinungsverschiedenheiten ausgetragen wurden. Die vielen einschlägigen Textstellen des Korans, wo es um diese verschiedenen Arten von Gesprächen geht, sind allseits bekannt. Daraus ergibt sich, dass auch die Nichtgläubigen die Inhalte der koranischen Verse verstanden haben und die Aussagen des Korans für alle seine Hörer verständlich waren.
Wer den Koran als einen religiösen, geschichtsbezogenen Text liest, wird feststellen, dass es zwischen dem Propheten des Islams und seinen Adressaten zu einem für beide Seiten verständlichen ernsthaften Dialog mit vielen unterschiedlichen Facetten gekommen ist. Im Lauf von 23 Jahren hat der Prophet in verschiedenen Situationen fortgesetzt und in mannigfaltiger Weise seine Sendung bezeugt und die Aufforderung, an den einen und einzigen Gott zu glauben und ihn zu bekennen, für die Menschen im Hidschaz – ob sie nun Götzenanbeter, Juden oder Christen oder andere waren – wiederholt. Er hat ihnen in den verschiedenen Formen der Koranverse Argumente vorgelegt und zu diesem Zweck auch mit großer Entschlossenheit und unermüdlichem Einsatz verschiedene Aktivitäten unternommen. In diesen Versen und Argumentationsweisen sind unterschiedliche Arten von Methoden der Aufforderung zur Anwendung gekommen: in Form von Hinweisen auf Vorkommnisse in der Natur und auf Ereignisse der Geschichte, von Erzählungen aus der Geschichte der Völker sowie früherer Propheten, in Form von Berichten über menschliche Schicksale bis hin zur Darlegung mannigfaltiger Philosophien, besonders aber auch in Form von Aufforderungen zu moralischem Handeln, von Warnungen und aufmunternden Botschaften, Beispielen, Bildern und mannigfaltigen Gleichnissen.
In der Folge des Handelns nach den Geboten und Verboten, die in diesen Aufforderungen ausgesprochen waren, kam es in der objektiven Realität des individuellen und gesellschaftlichen Lebens der Bewohner von Hidschaz zu sehr vielen Veränderungen (und zwar in einem Ausmaß, dass es zur Entstehung einer eigenen Zivilisation und Kultur geführt hat).
Berücksichtigt man diese historischen Tatsachen, stellt sich die Frage, ob es vorstellbar ist, dass all das auf ein Wort zurückgehen kann, das ein Mensch vorgelesen, jedoch nicht als sein eigenes Wort betrachtet hat, sich selbst also nicht dafür verantwortlich gefühlt hat – weder für dessen äußeren Wortlaut noch für dessen Inhalt. Wir müssen mit anderen Worten fragen, ob ein Wort dieser Art überhaupt von den Adressaten hätte verstanden werden können, geschweige denn, ob es imstande gewesen wäre, Menschen zu Anhängern des Propheten zu machen oder sie ihm als Widersacher gegenüberzustellen, ob unter diesen Umständen Menschen zu Gläubigen geworden wären oder als Ungläubige sich ihm hätten widersetzen können, geschweige denn, wie ein Wort dieser Art zu so vielen bedeutenden Anstrengungen und großen kulturellen und gesellschaftlichen Veränderungen hätte führen können, so dass es schließlich eine eigene Zivilisation und Kultur hervorbrachte.
Eine Besinnung auf die Methoden des menschlichen Sprechens und auf die Formen menschlichen Zusammenlebens ganz allgemein zeigt, dass das Wort des Propheten von Seiten der Adressaten überhaupt nicht verstanden worden wäre, wenn der Prophet des Islams sich als Lautsprecher oder Sprachrohr vorgestellt hätte mit dem Ziel, nur eine Reihe von geordneten Lauten an die Adressaten zu übertragen. Dies wäre für sie bedeutungslos gewesen. Ein Wort dieser Art hätte nicht die Basis für seine Botschaft bilden können; es wäre nicht imstande gewesen, zu einem Gespräch zu führen, das Geschichte machen sollte. Es wäre schlechterdings nicht möglich gewesen, dass auf solche Weise ein Gespräch und ein wechselseitiges Verstehen zustande kommt.
Behauptet jemand, dass ihm bestimmte Wortformen und Inhalte durch einen Vermittler, wie etwa einen Engel, vorgelesen worden sind, und wenn er dann hingeht und sie einem anderen vorliest, indem er sich als bloße Schallplatte vorstellt und von sich sagt, dass nicht er der Sprecher dieser Sätze ist, so kann man derlei Sätze (die man eigentlich nicht als solche bezeichnen kann) weder untersuchen noch kommentieren oder analysieren. Es gibt auch für sie keine möglichen Lesarten. Sätze dieser Art haben keinen Sprecher im eigentlichen Sinn. Man kann sie auch keiner Sprache zuordnen, etwa dem Arabischen. Die Weitergabe eines vorher bereits ausformulierten Textes durch den Propheten würde in etwa so verlaufen, dass ein Mensch von sich sagt, es wären ihm bestimmte Sätze vorgelesen worden, die von Gott kommen und die er wie ein Tonträger nun seinen Adressaten Wort für Wort vorliest. Eine derartige Behauptung ist natürlich für sich gesehen eine verständliche und diskutierbare Behauptung, da sie als solche etwas aussagt. Doch entbehren in diesem Falle die Sätze selbst, die weitergegeben werden, eines Sinnes, weil sie die oben angeführten Grundvoraussetzungen nicht erfüllen. Die Adressaten können doch nicht wissen, was da im Inneren des Propheten tatsächlich vor sich geht. Spricht jemand mit ihm? Wer spricht mit ihm? Wie geschieht dies?
Fragen wie diese betreffen das Angerufensein des Propheten bzw. seine persönliche Erfahrung, die möglicherweise nur er selbst verstehen kann. Jedenfalls handelt es sich dabei nicht um ein Verstehen nach der Art, wie man sonst ein menschliches Wort versteht. Liest er in der Folge die betreffenden Aussagen wie ein Tonträger seinen Adressaten vor, fordert einer, der eine Behauptung dieser Art aufstellt – ein nabî, d. i. ein Prophet –, seine Adressaten in Wahrheit auf, diese Aussagen nur aus frommer Ergebenheit, wie Hörige, und im Zeichen ihrer Gefolgschaft ihm gegenüber als sinntragend zu betrachten und deren Bedeutung mit dem gleichzusetzen, was er in ungewöhnlicher Weise empfangen hat. Das führt dazu, dass er seinen Adressaten die einzelnen Aussagen erläutern muss, um ihnen zu erklären, welchen Sinn und welche Bedeutung sie in seiner Erfahrung gehabt haben. Alle Debatten und Streitgespräche, jegliche Ablehnung und Zustimmung sowie die Auseinandersetzungen und gesellschaftlichen Veränderungen im politischen oder kulturellen Bereich, die der Prophet des Islams verursachte und von denen im Koran die Rede ist – soll man wirklich annehmen, dies alles sei dadurch zustande gekommen, dass der Prophet seine Adressaten dazu brachte, aus frommer Ergebenheit zu ihm diese Verse, die für sie keine sprachlichen Voraussetzungen erfüllten, als Worte, die Sinn und Bedeutung haben, zu akzeptieren?! Reicht dies aus, als Anspruch an die Menschen heranzutreten, der für sie nachvollziehbar und annahmewürdig ist?
Ist es vorstellbar, dass die Aufforderung des Propheten in solchem Maße unverständlich ist? In vielen Fällen wird im Koran darauf hingewiesen, dass seine Verse in „klarer arabischer Sprache“ abgefasst sind oder in der „Sprache des Volkes“. Kann man zahlreiche andere Aussagen und Verse im Text des Korans, die darin in ihrem Sinngehalt für die Adressaten, ob diese nun Gläubige sind oder Ungläubige, als überprüfbar, denkbar und überlegenswert vorgestellt werden, ignorieren? Heißt es nicht im Koran, warum betrachtet ihr ihn nicht sorgfältig (Sure 47,24)? Nimmt der Koran nicht für sich selber besondere Eigenschaften in Anspruch wie Heilung (šifâ’), Führung (hidâya), Einsicht (baœîra), Ermahnung (maw‘iüa), Beweisführung (burhân), Beweismittel (bayyina), klares Zeichen u. a?8
Wie könnte man für einen Text, der auf nicht verständlichen Annahmen basiert, derlei Attribute in Anspruch nehmen? Sind alle die umfangreichen Bemühungen, die nach dem Tod des Propheten von den muslimischen Gelehrten unternommen wurden, um die Auslegung und das Verständnis des Korans zu vertiefen, in der Tat falsch, null und nichtig? Zeugen diese Bemühungen doch davon, dass die Menschen ihn als einen verständlichen Text betrachteten, der überprüfbar und auslegbar ist. Befassen wir uns heute mit eingehenden Untersuchungen des Korans, um ihn tiefer verstehen und auslegen zu lernen – wäre das alles letztlich sinn- und gegenstandslos?
Darüber hinaus nimmt der Koran für sich in Anspruch, dass die Anderen nichts vorlegen können, was diesen göttlichen Versen vergleichbar wäre.9 Wäre der Prophet des Islams bloß ein äußerer Überbringer, ein Übertragungskanal solcher Sätze gewesen, deren Wortlaut und Inhaltlichkeit nur eine Frage der Ergebenheit und Überzeugung ist und spezifisch den Gläubigen gilt, wie könnte dann ein solches ausschließlich für sich Inanspruchnehmen Sinn haben?
Ein weiteres historisches Kennzeichen des koranischen Zeugnisses ist die Tatsache, dass dem Koran zufolge der Prophet des Islams als einer gilt, „der zu Gott einlädt“, der mit innerer Scharfsichtigkeit Verkünder der Botschaft vom jenseitigen Leben und von der Barmherzigkeit Gottes ist, aber auch Verkünder (Warner) der furchterregenden Botschaft von den göttlichen Strafen, der Führer der Menschen ist auf den rechten Weg, Lehrer des Buches und der Weisheit, Richter in den Streitigkeiten der Menschen über den Glauben an den einen und einzigen Gott, Befreier der menschlichen Seelen von Fesseln und Banden, Wegbereiter der Auferstehung und der Gerechtigkeit, und anderes mehr.10
Wie sollte es möglich gewesen sein, alle diese Eigenschaften und Tätigkeiten jemandem zuzuschreiben, der nichts anderes ist als ein bloßes Medium von Lauten, und ihm so viele Rollen zuzuschreiben, die für das Leben der Menschen schicksalhafte Bedeutung haben? Ergeben sich nicht alle diese Rollen des Propheten aus dem Vorlesen des Korans und aus der Einführung der Menschen in dessen Sinngehalt und die darin enthaltene Sicht für ihr individuelles und gesellschaftliches Leben ihrer Stammesgemeinschaft? Ist der Koran nicht ein Wort des Propheten für die Menschen und ist die Aufgabe des Propheten tatsächlich keine andere als bloß ein Medium zu sein bei der Übertragung von Sätzen, wie wäre es dann möglich, ihm eine in vielfacher Hinsicht schicksalhafte Rolle zuzuschreiben? Darüber hinaus ist an vielen Stellen des Korans davon die Rede, dass der Prophet „zum Gesandten berufen“ wurde. Bedeutet doch mab‘uëîya’ Berufung, Sendung. Und der Prophet des Islams war nach seiner Berufung 23 Jahre seines Lebens mit dem historischen Zeugnis des Korans befasst – ein ruheloser Berufener aus dem Tiefsten seiner Existenz, mit äußerstem und unermüdlichem Engagement, mit unbesiegbarem Willen und mit überquellender und unerschöpflicher Energie. Seine Berufung war seine Sendung. Hätte sein Anspruch bloß darin bestanden, ein äußeres Medium zur Übertragung von Lauten zu sein, hätte dies gewiss nichts mit einer persönlichen Berufung zu tun gehabt. Ein Lautsprecher wird nicht berufen.
Das historische Zeugnis des Korans spricht schließlich auch davon, dass seine Gegner dem Propheten ständig vorwarfen, ein Magier und ein Dichter zu sein, ein Priester u. dgl. m.11 Immer wenn er dabei war, durch das Vorlesen des Korans seine Adressaten in außerordentlicher Weise zu beeinflussen und sie zum Glauben zu Gott zu führen, hat man ihm diese negativen Eigenschaften zugeschrieben. Hatte man doch bestimmte Menschen als Magier, Dichter und Priester bezeichnet, die durch ihr Wirken und Verhalten andere Menschen beeinflussten. So auch den Propheten. Hätte hingegen das Vorlesen des Korans nichts anderes als das äußere Weiterleiten von Lauten bedeutet, wäre es unverständlich und inakzeptabel vom Propheten zu sagen: „du bist einer wie sie“, d. i. wie einer der Magier, Dichter, Priester usw. Weil solche Werke von ihnen stammen, gibt man ihnen diese Bezeichnungen, auch wenn sie sich mit transzendenten Kräften verbunden wussten. Wäre also das Vorlesen des Korans nicht das Sprechen des Propheten gewesen, sein Wort und sein Werk, hätte man nicht von ihm sagen können, du bist ein Priester, Magier und Dichter.
Durchforschen wir den Koran in diese Richtung und weiten unseren Blick auf alle darin überlieferten Zeugnisse, finden wir noch viele andere Einzelheiten. Sie alle zeigen, dass der Prophet keineswegs den Anspruch erhob, dass die Verse des Korans, wie wir sie heute in der Erhabenen Schrift vorfinden, ihm in ihrem Wortlaut und in ihrem Sinngehalt von Gott herabgesandt worden sind und er sie den Menschen in dieser Weise bloß zur Kenntnis bringt. Vielmehr stammen sowohl Wortlaut als auch Inhalt dessen, was er vorliest, vom Propheten, auch wenn er Gott als seinen Lehrer und Beweger dieses Vorlesens erlebte – was ihn dazu führte, das, was er vorliest, als Offenbarung zu bezeichnen.
Hier erwähne ich noch eine Meinung, die besagt: Der Prophet gibt das Wort Gottes buchstäblich so weiter, wie ein Befehlshaber in einer Armee den Befehl, den er von seinem Oberbefehlshaber empfangen hat, im genauen Wortlaut an seine Soldaten weitergibt. Die Soldaten hören und verstehen so den wörtlich genauen Befehl des Oberbefehlshabers.
Genau dieser Vergleich ist aber in unserem Fall nicht zulässig. Meine Antwort auf eine solche Vereinfachung des Problems ist folgende:
Der Befehl des Oberbefehlshabers, die Weitergabe durch den untergeordneten Befehlenden an seine Soldaten und deren Hören und Verstehen hält sich ganz in der gemeinsamen intersubjektiv vermittelten sprachlichen Menschenwelt. Die Verständlichkeit ist prinzipiell eingebunden in den vorgegebenen Kontext und das soziokulturelle Milieu aller Beteiligten. Genau das trifft auf das Verhältnis von Gott und dem Propheten und dessen Hörern nicht zu. Zwischen dem, was Gott dem Propheten mitteilt, und dem, was der Prophet empfängt, gibt es keine intersubjektive Verständlichkeit im menschlichen Sinn, wenn man Gott wirklich Gott sein lässt. Wir können Gott nicht, ohne in Anthropomorphismen zu verfallen, in unsere menschliche Sprachwelt einordnen, wenn unsere Sprache für uns verständlich bleiben soll.
Die menschliche Sprache ist eine Größe, die nach unserer Vorstellung nur in der menschlichen Welt entstehen kann. Weil wir gar keine Vorstellung und Erfahrung von einem Gebrauch der menschlichen Sprache durch Gott haben können – auch der Gedanke an Gottes Allmacht ist hier keine Hilfe – müssen wir auf den genannten Vergleich verzichten.
So gelangen wir in dieser Untersuchung zu dem Ergebnis, dass der Prophet, der den Koran gebracht hat, keinesfalls behauptet hat, dass der Koran nicht sein Wort ist, sondern ihn im Gegenteil als sein Wort vorgestellt hat. Um welchen Anspruch ging es dann, den die Gegner des Propheten zurückwiesen? Dem historischen Zeugnis des koranischen Textes und anderen historischen Zeugnissen zufolge bestand sein Anspruch darin, ein besonderer Mensch zu sein, der aus seiner Erfahrung erkannt hat, von Gott auserwählt und berufen zu sein und von Gott zum Sprechen dieser Worte (nämlich zum Vorlesen des Korans, éilâwa al-Qur’ân) ständig ermächtigt zu sein. Eben diese Ermächtigung zum Sprechen wird in der Sprache des Korans als ‚Offenbarung’ (waáy) bezeichnet. Den Versen des Korans zufolge bestand der Anspruch des Propheten darin, dass das, was er vorliest, auf Offenbarung zurückgeht, dass er mit anderen Worten durch Offenbarung zu solchen Worten ermächtigt ist. Offenbarung im Sinne des Korans sind jene Handlungen Gottes, die den Propheten ermächtigen und berufen, diese Verse vorzulesen. Von Offenbarung wird im Koran nicht nur im Hinblick auf den Propheten gesprochen, sondern auch hinsichtlich der Bienen. So heißt es in Sure 16, Vers 68: „Und dein Herr hat der Biene eingegeben [...].“
Zum anderen heißt es in Sure 42, Vers 51: „Und es steht keinem Menschen zu, dass Gott zu ihm spricht, es sei denn durch Offenbarung oder hinter einem Vorhang, oder indem Er einen Boten sendet, der (ihm) dann mit seiner Erlaubnis offenbart, was Er will. Er ist erhaben und weise.“ In diesem Vers wird die direkte Offenbarung (waáy) bzw. die Offenbarung mittels eines Gesandten als ein Akt des Sprechens bezeichnet, den man Gott zuordnen kann (so wie in anderen Versen die Schöpfung alles Seienden als Sprechen Gottes bezeichnet wird: wie zum Beispiel in Sure 36, Vers 82) wo es heißt: „Sein Befehl, wenn Er etwas will, ist, dazu nur zu sagen: Sei!, und es ist.“ Fassen wir den Inhalt dieses Verses und die vorangegangenen Überlegungen zusammen, ergibt sich, dass in der Sicht des Korans die Offenbarung (waáy) in einem Sprechen Gottes mit dem Propheten des Islams besteht, das zu seiner Berufung und in der Folge zu seinem Sprechen geführt hat, d. h. zu seinem Vorlesen der Verse des Korans. So sind die Verse des Korans Produkte der Offenbarung, nicht die Offenbarung selbst. Zugleich sind diese Verse sowohl Zeugnisse des Propheten, der die natürliche Ursache für sie ist und der Sprecher dieser Worte, als auch das Wort Gottes. Wie es in Sure 9, Vers 6 heißt: „Und wenn einer von den Polytheisten dich um Schutz bittet, so gewähre ihm Schutz, bis er das Wort Gottes hört.“
In einer poetischen Rede sagt Áâfiü einmal: „Die Nachtigall lernte durch die Huld der Rose das Sprechen, sonst fänden sich nicht so viele Gesänge und Strophen in ihrem Schnabel.“ Ähnlich können wir uns vorstellen, dass das Sprechen Gottes mit dem Propheten des Islams durch Offenbarung eine Art von göttlicher Belehrung war aufgrund einer besonderen Kommunikation, dass Gott ihn durch Offenbarung (waáy) zu diesem Wort ermächtigte. Sicher ist eines: Jenes Sprechen Gottes, wie immer es vor sich gegangen sein mag, war nicht von der Art einer sprachlichen Kommunikation unter Menschen, da in jener Sphäre die sprachlichen Voraussetzungen menschlicher Kommunikation nicht gegeben sind. Deshalb können wir uns keine Vorstellung davon machen, welcher Art jenes Sprechen(takallum) tatsächlich war. Muáammad Áusayn Éabâéabâ’î meint in diesem Zusammenhang: „Beachtenswert ist, dass für uns die Weise, wie die Offenbarung wahrgenommen wurde (šu‘ûr al-waáy), geheimnisvoll bleibt. Wir verstehen auch nicht, in welchem Verhältnis waáy zur Wahrheit steht. Das bedeutet, dass es eine objektive Beziehung zwischen den Inhalten der religiösen Wahrheiten einerseits und der Moral und den Gesetzen anderseits gibt, die sich unserem Denken entzieht. Würde ihre Beziehung das erläutern, was wir verstehen, würde zweifelsohne die Kenntnis der Offenbarung eine Erkenntnis nach Art unseres Denkens geworden sein, was jedoch nicht der Fall ist. Man muss also sagen, dass der Prophet auf dem Weg der Offenbarungserkenntnis diese geheimnisvollen Beziehungen begriffen hat und, um sich verständlich zu machen, in unserer Sprache mit uns gesprochen hat. Er macht dabei von unseren gedanklichen Verständigungsmöglichkeiten Gebrauch.“12
Éabâéabâ’î ist demnach der Auffassung, dass der Koran, den wir in der Hand haben, ein menschliches Wort ist. Der Sprecher dieses Wortes ist der Prophet, auch wenn er dabei von Gott unterrichtet wird. Das führt mich zu einem wesentlichen Punkt: Werden die koranischen Verse als göttliche Verse bezeichnet, so ist das in ähnlicher Weise zu verstehen, wie die Art und Weise wie im Koran von den Naturphänomenen gesprochen wird: das bedeutet keineswegs, dass diese Phänomene aus der Sicht des Korans nicht ihren natürlichen Ursachen zugeordnet werden. Ähnlich gilt: Werden die Verse des Korans als Verse Gottes bezeichnet, bedeutet dies nicht, dass diese Verse nicht ihrer natürlichen Ursache zugeordnet werden – dem Propheten des Islams. Genauso, wie aus der Sicht des Korans im Hinblick auf alle übrigen Phänomene das eigentümliche Wirken Gottes auf der vertikalen Ebene liegt und nicht auf der horizontalen, so wird Gottes Wirken auch hinsichtlich des Phänomens des Korans auf der vertikalen Ebene gesehen und nicht auf der horizontalen.
Jedenfalls meine ich, dass der Begriff der „Herabkunft der Offenbarung“ (inzâl al-waáy) oder der „Herabkunft des Buches“ und ähnliche im Koran verwendete Begriffe keineswegs gegen die Einordnung des Korans als Wort des Propheten spricht. So heißt es in Sure 25, Vers 48: „Und Er ist es, der die Winde als frohe Kunde seiner Barmherzigkeit vorausschickt. Und Wir lassen vom Himmel ein reines Wasser herabkommen“. Damit soll nicht gesagt werden, dass das Regnen nicht auf seine natürliche Ursache zurückzuführen sei. In ähnlicher Weise soll, wie schon gesagt, das Herabkommen der Offenbarung bzw. das Herabkommen des Buches von Gott nicht so verstanden werden, als würde damit der Koran nicht auf dessen natürliche Ursache, die der Prophet ist, zurückgeführt werden.
Was für meine Erklärungen spricht, ist meiner Ansicht nach so offensichtlich und konstant, dass wir uns verpflichtet sehen müssen, dies anders zu verstehen, wo immer wir einem Ausdruck begegnen, der anscheinend mit der Qualität des Korans als Wort des Propheten unvereinbar ist. Dass wir auf solche Ausdrücke stoßen, soll uns nicht dazu veranlassen, nicht daran festzuhalten, dass der Koran das Wort des Propheten ist. Hinzu kommt, dass uns die Beachtung der unüberschaubaren Vielfalt der sprachlichen Anwendungsmöglichkeiten, die heute in der Sprachphilosophie und Literaturwissenschaft als erwiesen betrachtet werden, neue Wege sprachlicher Nutzanwendung eröffnet. Im weiteren zeigt die Untersuchung „Die Geschichte der Lesarten des Korans“, dass die Inhalte mancher koranischer Ausdrücke Veränderungen erfahren haben und von einem Ausdrucksstil zum anderen ihre Form geändert haben. Zweifelsohne kann die Erweiterung einer solchen geschichtlichen Untersuchung, deren Erkenntnisse in der Geschichte der Koranauslegung von den muslimischen Gelehrten in hohem Maße beachtet wurde, viel zum genaueren Verständnis des koranischen Textes beitragen, indem es viele sprachliche Unklarheiten des Textes beseitigt. Das bedeutet natürlich nicht, dass der Text des Korans in seiner heutigen Gestalt unverständlich wäre – worauf wir noch zu sprechen kommen.13
Im Verlauf der Überlegungen, die wir im Vorangegangenen angestellt haben, hat sich gezeigt, dass aufgrund der Tatsache, dass der Koran das Wort des Propheten ist, die sprachliche Kommunikation des Propheten des Islams mit seinen Adressaten mittels dieses Textes eine Kommunikation in der Sprache der Menschen war. Wenn dem so ist, können wir im Zusammenhang mit dem Studium und der Erforschung des Korans alle wissenschaftlichen Methoden anwenden, die auch sonst beim Studium von Werken, die in der menschlichen Sprache abgefasst sind, angewendet werden. Das heißt, wir können alle Theorien, die in der Sprachphilosophie, in der Sprachwissenschaft und in der modernen Hermeneutik, in der historischen Kritik usw. angewendet werden, auch für das Studium und für das Verständnis des Korans heranziehen. Diesbezüglich gibt es meiner Ansicht nach weder ein Hindernis, noch führt ein Weg daran vorbei.
3. Erläuterungen zur zweiten These, die die prophetische Lesart der Welt betrifft
Untersucht und studiert man den Koran als einen religiösen Text, kommt man zur Erkenntnis, dass dieser Text im Großen und Ganzen eine religiöse Erzählung ist, die das Geschehen in der Natur, die Geschichte der Völker, das Schicksal der einzelnen Menschen und die gesellschaftlichen Verhältnisse im Lichte göttlichen Handelns auslegt. Mehr als um alles andere geht es in diesem Text um eine religiöse Sinngebung für die Welt im Interesse seiner Leser.
In den Aussagen des Korans begegnen wir der Erfahrung des Propheten des Islams, die von seinem religiös bestimmten Verhältnis zur Welt spricht. Dennoch geht es ihm in seiner Erfahrung mehr um das Sinnverständnis der Welt als darum, über sie zu reden. Der Text des Korans verkündet, womit der Prophet es zu tun hat. Der Text vermittelt den Adressaten nicht so sehr die Erkenntnisse über etwas, verkündet nicht wie die Welt ist, sondern wie der Prophet sie sieht. Er legt also seine Sichtweise dar. Er „liest“ die Welt. Der Koran, d. h. die vorhandenen Verse der Erhabenen Schrift, ist seinem Wesen nach ein Lesen der Welt im Lichte ihres prophetisch-auslegenden Verständnisses. Dieses Lesen, das in arabischer Sprache erfolgt, ist eine Tätigkeit, die auf der hermeneutischen Erfahrung des Propheten beruht und auf seinem verpflichtenden Anspruch. Die Verse des Korans sind Sprechakte des Propheten, der eine „Nachricht“ bringt und die Adressaten dazu auffordert, auf diese Nachricht zu hören und ihr Leben in Einklang mit dieser Botschaft zu bringen.
Die Botschaft lautet, dass alle Phänomene und Ereignisse Gottes Hinweise sind (âyât) und dass sich in ihnen Gottes Handeln widerspiegelt. Es wird gesagt, dass sich im Koran etwa 400 Mal das Wort âya (s.) bzw. âyât (pl.), meistens in Verbindung mit Allâh, findet. Die Art, wie der Prophet die Welt liest, wie er sie auslegend versteht, führt ihn in eine Tiefe, in der er über ein Auslegen der Welt und ihrer Erscheinung hinaus zu einem Beschreiben Gottes selbst gelangt. In diesem Stadium erfährt er Gott als Licht der Himmel und der Erde. So heißt es in Sure 24, Vers 35: „Gott ist das Licht der Himmel und der Erde.“
Um das Gesagte zu verdeutlichen, muss ich etwas dazu sagen, was ich unter einem kommentierenden Verstehen von Erscheinungen verstehe. Im Koran bedeutet das Wort âya nicht so sehr ‚Zeichen’ als vielmehr das, was in den philosophischen Enzyklopädien unter ‚Erscheinung’ und ‚Phänomen’ verstanden wird. So heißt es im Historischen Wörterbuch der Philosophie:
„Erscheinung wird in der Philosophie vor Kant [...] durchweg das sinnfällig Gegebene, Naturhafte genannt, dasjenige, was in der raum-zeitlichen Erfahrung als das Nicht-Eigentliche, Vordergründige begegnet und am eigentlichen Sein mehr oder minder teilhat.“14
In der persischen Sprache entspricht dem Begriff ‚Erscheinung’ nomûd, bzw. im Arabischen des Korans âya.
Sieht ein Mensch alle existierenden Dinge als âyât Gottes, dann sieht er sie alle als Erscheinungen einer endgültigen Wirklichkeit, zu der er selbst keinen unmittelbaren Zugang hat, die sich ihm aber als verborgene Wirklichkeit in ihren Erscheinungen zeigt. Man muss bei dieser subtilen Unterscheidung beachten, dass Erscheinung-Sein dessen, der die Allwirklichkeit ist, so viel bedeutet wie, dass diese Allwirklichkeit als Erscheinung gesehen wird und ein solches Sehen das auslegende Verstehen alles Existierenden bedeutet. Ein Mensch, der alles Existierende als Erscheinung Gottes erfährt, der legt nicht aus, was er versteht, sondern sein Verständnis selbst ist eine Auslegung.
Unter diesem Gesichtspunkt sind Verstehen, Kommentar und das Sehen der Erscheinung ein Einziges. Sie bilden ‚ein einziges Bezugssystem’, das in der Begegnung mit der Welt konstituiert wird. Richard Schaeffler, zeitgenössischer katholischer Philosoph, gibt hinsichtlich eines Verstehens, das Kommentar und Wahrnehmen der Erscheinung in einem ist, eine interessante Erklärung, die uns die Bedeutung des kommentarhaften Verstehens der Welt näher bringt:
„Religiöse Weltauslegung geschieht nicht erst dort, wo ausdrücklich formulierte Interpretationen vorgetragen werden. Schon die Welterfahrung selbst nimmt religiösen Charakter an, wo sie ‚im Lichte des Heiligen’ gemacht wird. Dabei zeigt sich das Wirkliche in der Welt und die Welt im Ganzen unter dem paradoxen Doppelaspekt einer radikalen Labilität und einer beständigen Erneuerung.“15
Nach diesen Hinweisen denke ich zeigen zu können, wie das Sehen der Erscheinung alles Seienden, der Welt, jene Sicht ist, die den ganzen Text beherrscht, indem ich im Folgenden relativ ausführlich auf den Text des Korans eingehe. Dabei ist es jedoch notwendig darauf zu achten, dass es im Koran keine systematische, auf die Welt in ihrer Gesamtheit gerichtete Weltanschauung gibt.
Im Koran gibt es den Ausdruck kullu šay’in, (alle Dinge): es wird von Himmeln und Erden, von Sonne, Mond und Sternen gesprochen, von Welten, Tieren und Menschen, von Bergen, Wasser und Pflanzen, von Völkern und Individuen, von Heimsuchungen und Gnade und von hundert anderen Dingen. Doch werden alle dies Dinge jeweils für sich behandelt.
Nach diesem Hinweis werfen wir zunächst einen relativ ausführlichen Blick auf die Weise, wie im Koran das vielfältige Naturgeschehen, die Menschen, das Schicksal der Völker, die Geschichte und die gesellschaftlichen Wirklichkeiten gesehen werden. Ist es doch unumgänglich, im Rahmen dieser Untersuchung in jene Welt einzuführen, in der der Prophet des Islams lebte und die er las und die sich im Koran spiegelt. Eben dies macht es erforderlich, auf zahlreiche Verse des Korans hinzuweisen.
Die prophetische Lesart der Natur
Wenden wir uns zuerst den Erscheinungen in der Natur zu: „In der Erschaffung der Himmel und der Erde; im Aufeinanderfolgen von Nacht und Tag; in den Schiffen, die auf dem Meer fahren mit dem, was den Menschen nützt; im Wasser, das Gott vom Himmel herabkommen lässt und mit dem Er die Erde nach ihrem Absterben wieder belebt und auf ihr allerlei Getier sich ausbreiten lässt; im Wechsel der Winde und der zwischen Himmel und Erde in Dienst gestellten Wolken, (in alledem) sind Zeichen für Leute, die verständig sind.“ (Sure 2,164). „O ihr Menschen, fürchtet euren Herrn, der euch aus einem einzigen Wesen erschuf, aus ihm seine Gattin erschuf und aus ihnen beiden viele Männer und Frauen entstehen und sich ausbreiten ließ.“ (Sure 4,1) „Er ist es, der euch bei Nacht abberuft und weiß, was ihr bei Tag begangen habt. [...] Er ist es, der bezwingende Macht über seine Diener besitzt. Und Er entsendet Hüter über euch, so dass, wenn der Tod zu einem von euch kommt, unsere Boten ihn abberufen. [...] Wer errettet euch aus den Finsternissen des Festlandes und des Meeres [...]? Sprich: Gott errettet euch daraus und aus jeder Trübsal.“ (Sure 6,60–64). „Und Er ist es, der Gärten mit Spalieren und ohne Spaliere entstehen lässt sowie die Palmen und das Getreide verschiedener Erntesorten, und die Öl- und Granatapfelbäume, die einander ähnlich und unähnlich sind. [...] Und an Vieh (lässt Er entstehen) Lasttiere und Kleintiere. [...] (Und auch) acht Tiere zu Paaren: von den Schafen zwei und von den Ziegen zwei [...].“ (Sure 6,141–143). „Gott ist es, der die Körner und die Kerne spaltet. Er bringt das Lebendige aus dem Toten und Er bringt das Tote aus dem Lebendigen hervor. [...] Er, der die Morgendämmerung anbrechen lässt. Er hat die Nacht zur Ruhezeit und die Sonne und den Mond zur Zeitberechnung gemacht. [...] Er ist es, der euch die Sterne gemacht hat, damit ihr durch sie die gute Richtung in den Finsternissen des Festlandes und des Meeres findet. [...] Und Er ist es, der vom Himmel Wasser herabkommen lässt. Und Wir bringen damit Pflanzen jeglicher (Art) hervor [...]. Es gibt keinen Gott außer Ihm, dem Schöpfer aller Dinge.“ (Sure 6,95–102). „Euer Herr ist Gott, der die Himmel und die Erde in sechs Tagen erschuf [...]. Er ist es, der die Sonne zur Leuchte und den Mond zum Licht gemacht und ihm Stationen zugemessen hat, damit ihr die Zahl der Jahre und die Zeitrechnung wisst. [...] Im Aufeinanderfolgen von Nacht und Tag und in dem, was Gott in den Himmeln und auf der Erde geschaffen hat, sind gewiss Zeichen für Leute, die gottesfürchtig sind. [...] Er ist es, der euch auf dem Festland und auf dem Meer reisen lässt. [...] Wer versorgt euch vom Himmel und von der Erde, oder wer verfügt über Gehör und Augenlicht? Und wer bringt das Lebendige aus dem Toten und bringt das Tote aus dem Lebendigen hervor? Und wer regelt die Angelegenheiten der Welt?“ (Sure 10,3–5.22. 31). „Und Er stellte in euren Dienst die Schiffe, damit sie auf dem Meer auf seinen Befehl fahren. Und Er stellte in euren Dienst die Flüsse. Er stellte in euren Dienst die Sonne und den Mond in unablässigem Lauf. Und Er stellte in euren Dienst die Nacht und den Tag. Und Er ließ euch etwas zukommen von allem, warum ihr batet.“ (Sure 14,32–34). „Und Wir haben im Himmel Sternzeichen gesetzt und ihn für die Zuschauer geschmückt [...]. Auch die Erde haben Wir ausgebreitet [...]. Und Wir haben auf ihr für euch Unterhaltsmöglichkeiten bereitet [...]. Und Wir haben die befruchtenden Winde gesandt. Und Wir haben dann vom Himmel Wasser hinabkommen lassen und es euch zu trinken gegeben. [...] Und Wir sind es, die lebendig machen und sterben lassen.“ (Sure 15,16.19 f. 22 f.).
„Den Menschen hat Er aus einem Tropfen erschaffen [...]. Auch hat Er die Herdentiere erschaffen. An ihnen habt ihr Wärme und allerlei Nutzen; und ihr könnt davon essen. Und ihr habt an ihnen Schönes, wenn ihr (sie) abends eintreibt und wenn ihr (sie) morgens austreibt. Und sie tragen eure Lasten in ein Land, das ihr (sonst) nur mit größter Mühe hättet erreichen können. [...] Und (erschaffen hat Er) die Pferde, die Maultiere und die Esel, damit ihr auf ihnen reitet. [...] Er ist es, der vom Himmel Wasser hat herabkommen lassen [...]. Er lässt euch dadurch Getreide sprießen, und Ölbäume, Palmen, Weinstöcke und allerlei Früchte [...]. Und Er hat euch die Nacht und den Tag, die Sonne und den Mond dienstbar gemacht [...]. Und Er ist es, der euch das Meer dienstbar gemacht hat, damit ihr frisches Fleisch daraus esst und Schmuck aus ihm herausholt, um ihn anzulegen.“ (Sure 16,4–8.10–12.14). „Und Gott hat euch aus dem Leib eurer Mütter hervorgebracht [...]. Haben sie nicht auf die Vögel geschaut [...]? Nur Gott hält sie oben [...]. Und Gott hat euch aus euren Häusern eine Ruhestätte gemacht, und Er hat euch aus den Häuten des Viehs Behausungen gemacht [...], und aus ihrer Wolle, ihren Fellhärchen und ihrem Haar Ausstattung und Nutznießung für eine Weile.“ (Sure 16,78–80). „Dies, weil Gott die Nacht in den Tag übergehen und den Tag in die Nacht übergehen lässt [...]. Hast du denn nicht gesehen, dass Gott euch das, was auf der Erde ist, dienstbar gemacht hat [...]? Und Er hält den Himmel, dass er nicht auf die Erde fällt [...]. Und Er ist es, der euch lebendig gemacht hat. Dann lässt Er euch sterben, dann macht Er euch wieder lebendig.“ (Sure 22,61.65 f.). „Und wahrlich, Wir schufen den Menschen aus einem entnommenen Ton. Dann machten Wir ihn zu einem Tropfen in einem festen Aufenthaltsort. Dann schufen wir den Tropfen zu einem Embryo, und Wir schufen den Embryo zu einem Fötus, und Wir schufen den Fötus zu Knochen. Und Wir bekleideten die Knochen mit Fleisch. Dann ließen Wir ihn als eine weitere Schöpfung entstehen.“ (Sure 23,12–14).
„Er bringt das Lebendige aus dem Toten, und Er bringt das Tote aus dem Lebendigen hervor. Und Er belebt die Erde nach ihrem Absterben. Und so werdet auch ihr hervorgebracht. Und es gehört zu seinen Zeichen, dass Er euch aus Erde erschaffen hat [...], dass Er euch aus euch selbst Gattinnen erschaffen hat [...]. Und Er hat Liebe und Barmherzigkeit zwischen euch gemacht [...]. Zu seinen Zeichen gehört [...] auch die Verschiedenheit eurer Sprachen und Arten [...]. Und zu seinen Zeichen gehört euer Schlaf, und auch euer Streben nach etwas von seiner Huld [...]. Darin sind Zeichen, âyât, für Leute, die hören. Und es gehört zu seinen Zeichen, dass Er euch den Blitz als Grund zur Angst und zum Begehren sehen lässt [...]. Und es gehört zu seinen Zeichen, dass der Himmel und die Erde durch seinen Befehl bestehen. Dann, wenn Er euch mit einem Ruf aus der Erde ruft, da kommt ihr hervor [...]. Ihm gehört, wer in den Himmeln und auf der Erde ist. Alle sind Ihm demütig ergeben. Er ist es, der die Schöpfung am Anfang macht und sie dann wiederholt.“ (Sure 30,19.21–27). „Er hat die Himmel erschaffen ohne Stützen, die ihr sehen könnt. Und Er hat auf der Erde festgegründete Berge gelegt, dass sie nicht mit euch schwanke.“ (Sure 31,10). „Haben sie denn nicht auf das geschaut, was vom Himmel und von der Erde vor ihnen und was hinter ihnen ist? Wenn Wir wollen, lassen Wir die Erde mit ihnen versinken oder Stücke vom Himmel auf sie herabfallen.“ (Sure 34,9). „Sprich: Wieder lebendig macht sie der, der sie das erste Mal hat entstehen lassen [...]. Er, der euch aus grünen Bäumen Feuer gemacht hat, sodass ihr gleich damit anzünden könnt. [...] Sein Befehl, wenn Er etwas will, ist, dazu nur zu sagen: Sei!, und es ist.“ (Sure 36,79 f. 82). „Er hat die Himmel und die Erde in Wahrheit erschaffen. Er legt die Nacht über den Tag, und Er legt den Tag über die Nacht. Und Er hat die Sonne und den Mond dienstbar gemacht – jedes läuft auf eine bestimmte Frist. [...] Er hat euch aus einem einzigen Wesen erschaffen [...]. Er erschafft euch im Schoß eurer Mütter, eine Schöpfung nach der anderen in dreifacher Finsternis.“ (Sure 39,5 f.).
Diese Verse des Korans mögen hier für viele andere stehen, die zeigen, aus welcher Perspektive sich für den Koran die „Sicht der Natur“ ergibt. Alle Ereignisse und das ganze Naturgeschehen werden in der Welt des Propheten des Islams als „Erscheinungen“ (âyât) jener Wirklichkeit gesehen, in der alles Sein grundgelegt ist, die selbst aber nicht wahrgenommen werden kann. Doch ist Gott das Sein in all diesen „Erscheinungen“. Er ist unaufhörlich am Werk. Er schafft fortgesetzt in dieser oder jener Weise. Diese prophetische Sicht selbst ist das Verstehen und die Lesart. Die zitierten Verse wollen nicht als Aussagesätze verstanden werden oder als philosophische Wahrheiten. Es sind interpretatorische bzw. kommentierende Sätze – sie stehen für die Weise, wie der Prophet des Islams die Naturphänomene kommentiert, sie sind für ihn „Erscheinungen“ Gottes, sie spiegeln sein Handeln.
Diese prophetische Lesart im Koran beschränkt sich nicht auf die Erscheinungen in der Natur. Vielmehr tritt, wo immer von den Menschen und Völkern die Rede ist, ihr Geschöpfsein hervor, werden sie als Geschöpfe Gottes verstanden und interpretiert, deren Schicksal – ihre Entstehung, der Verlauf ihres Lebens in dieser Welt oder ihr jenseitiges Leben – in allem durch den Willen Gottes und sein Erscheinen bestimmt ist. Wo immer also die Sprache auf sie kommt, trifft man auf die wirksame Gegenwart Gottes: Er hat es mit ihnen so oder anders gemacht, und Er wird es oder kann es auch in Zukunft so oder anders machen. Selbst da, wo von den natürlichen Besonderheiten des Menschen die Rede ist, geht es im Kern darum, wie Gott am Menschen handelt.
Ich zitiere im Folgenden ziemlich ausführlich einige Beispiele von diesbezüglichen Schlüsselversen und überlasse das Studium weiterer Stellen dem verehrten Leser.
Die prophetische Lesart vom Schicksal der einzelnen Menschen
„Und Wir haben den Menschen aus einer Trockenmasse, aus einem gestaltbaren schwarzen Schlamm erschaffen“ (Sure 15,26). „Den Menschen hat Er aus einem Tropfen erschaffen. [...]“ (Sure 16,4). „Und jedem Menschen haben Wir sein Omen [das Lebensbuch] an seinem Hals befestigt. Und am Tag der Auferstehung holen Wir ihm ein Buch heraus, das er aufgeschlagen vorfindet“ (Sure 17,13).
„Er hat den Menschen erschaffen. Er hat ihm deutliche Rede gelehrt“ (Sure 55,3 f.) „O Mensch, du strebst mühevoll deinem Herrn zu, und du wirst Ihm begegnen“ (Sure 84,6). „Wir haben den Menschen zur Mühsal erschaffen“ (Sure 90,4). Dein Herr hat „den Menschen erschaffen aus einem Embryo“ (Sure 96,2) und hat „den Menschen gelehrt, was er nicht wusste“ (Sure 96,5).
Und mit den Worten Abrahams: „[...] der mich erschaffen hat und mich nun rechtleitet, und der mir zu essen und zu trinken gibt“ (Sure 26,78 f.). „Aus einem Tropfen hat Er ihn erschaffen und ihm sein Maß gesetzt. Dann macht Er ihm seinen Weg leicht. Dann lässt Er ihn sterben und begraben“ (Sure 80,19‑21). „Und niemand kann sterben außer mit der Erlaubnis Gottes [...]“ (Sure 3,145). „Niemand kann glauben, es sei denn mit der Erlaubnis Gottes“ (Sure 10,100). „[...] und der Erde und dem, was sie ausbreitet, und der Seele und dem, was sie zurechtformt und ihr ihre Lasterhaftigkeit und ihre Frömmigkeit eingibt!“ (Sure 91,6‑8). „(Er), der den Tod und das Leben erschaffen hat, um euch zu prüfen (und festzustellen), wer von euch am besten handelt.“ (Sure 67,2). „Und Wir werden ihnen bestimmt mit ihrem Lohn vergelten für das Beste von dem, was sie taten“ (Sure 16,97). „[...] Er führt sie aus den Finsternissen hinaus ins Licht“ (Sure 2,257). „Und wer auf Gott vertraut, dem genügt Er“ (Sure 65,3). „Wen Gott rechtleitet, der ist es, der der Rechtleitung folgt, und wen Er irreführt, für den wirst du keinen Freund finden, der ihn den rechten Weg weisen könnte“ (Sure 18,17). „Wähnen sich denn diejenigen, die böse Ränke schmieden, in Sicherheit davor, dass Gott die Erde mit ihnen versinken lässt [...]?“ (Sure 16,45).
Diese und ähnliche Verse zeigen wie der Prophet des Islams aus seiner prophetischen Sicht das Schicksal der Menschen auslegend verstanden hat. Es handelt sich dabei nicht um Aussagesätze über bestimmte Fakten oder um philosophische Sätze. Es sind vielmehr auslegende Sätze, Sätze also, die das Schicksal und die Geschichte des Menschen, die Geschichte, die der Prophet als Interaktion zwischen Gott und Mensch ausgelegt hat, erläutern. Es spiegeln sogar die wichtigsten Verse des Korans zum Thema Versammlung und Auferstehung der Menschen am Jüngsten Tag eine auslegende Erfahrung zum Schicksal des Menschen wider. So wird zum Beispiel an zahlreichen Stellen des Korans gesagt, dass das Herausholen der toten Menschen aus der Erde der Wiederbelebung der Bäume und der Erde nach dem Winter gleicht.
Der Prophet hat das Werden und Vergehen des Menschen und sein Wiederbelebtwerden wie das Austreiben von Bäumen und Pflanzen, ihr Sterben und im Frühling wieder Lebendigwerden erfahren und gesehen. „Er bringt das Lebendige aus dem Toten, und Er bringt das Tote aus dem Lebendigen hervor. Und Er belebt die Erde nach ihrem Absterben. Und so werdet auch ihr hervorgebracht.“ (Sure 30,19).
Die wiederholten Aussagen des Korans zur Erschaffung des Menschen aus Erde, zum Erscheinen und Sich-Ausbreiten des Menschen auf der Erde, über das Wiederhineingehen des Menschen in die Erde und sein Wiederherauskommen aus der Erde, wie es beispielsweise in Sure 30, Vers 19, zur Sprache kommt, dies alles sind keine Mitteilungen, sondern solche, die eine auslegende Erfahrung vom Schicksal des Menschen verbalisieren. Unter dem Begriff des ‚Herausrufens’ der Menschen (áašr) aus der Erde wird im Koran das Herausholen des Lebendigen aus dem Toten verstanden. Grundlage für dieses deutende Verständnis des Menschen wird in Sure 44,38 f. so ausgedrückt: „Und Wir haben die Himmel und die Erde und das, was dazwischen ist, nicht zum Spiel erschaffen. Wir haben sie in Wahrheit erschaffen.“ (Vgl. Sure 21,16–18).
Im Vorgang der Schöpfung hebt Gott das Falsche (bâéil) durch die Wahrheit (áaqq) auf. Die Diener Gottes denken über die Erschaffung von Himmel und Erde nach, und sie verstehen, dass Gott sie nicht umsonst (bâéil) erschaffen hat (vgl. Koran 3,191; 38,47). In Aussagen wie „die Schöpfung ist nicht zum sinnlosen Spiel erschaffen“ (vgl. Koran 23,115), „die Schöpfung ist in Wahrheit“ und „die Erschaffung der Welt geht nicht ins Leere, ist nicht umsonst“ kommt ein deutendes Verständnis der Welt zum Ausdruck. Das Falsche und das Wahrhaftige sind deutende Erlebnisse und keine philosophischen Aussageweisen. Wenn wir von der Tat eines Menschen sagen, dass diese Tat nicht ins Leere gegangen sei, sondern einem bestimmten Zweck gedient hat, dann haben wir sein Tun interpretiert und nicht bloß darüber berichtet. Der Prophet des Islams konnte den Menschen nicht aus seiner allgemeinen Weltsicht, aus seiner Gesamtsicht der Wirklichkeit ausschließen, insofern er die Welt als eine Wirklichkeit sah und verstand, die nicht ohne Grund existierte, die wahrhaftig und keinesfalls nichtig war. Denn in seiner Erfahrung und aus seiner Sicht ist Gott das Woher von Allem, ist alles sein Eigentum, und ist Er das Woraufhin von allem. Ist das Schicksal des Menschen nicht auf Gott hin gerichtet, ist die Erschaffung des Menschen ‘abaë, sinnlos. Der Mensch ist der, der letztendlich vor Gottes Thron erscheint. Ein anderes Verständnis des Menschen ist nicht möglich.
Beachtenswert in diesem Zusammenhang sind die folgenden Verse: „O Mensch, du strebst mühevoll deinem Herrn zu, und du wirst ihm begegnen“ (Sure 84,6). „Meint ihr denn, Wir hätten euch zum sinnlosen Spiel erschaffen?“ (Sure 23,115). „Meint denn der Mensch, dass er unbeachtet gelassen wird? Ist er nicht ein Samentropfen, der sich ergießt, dann ein Embryo gewesen? Da hat Er erschaffen und gebildet, und daraus das Paar gemacht: den Mann und das Weib. Ist ein solcher (Gott) denn nicht im Stande, die Toten wieder lebendig zu machen?“ (Sure 75,36–40). „Wenn die Erde durch ihr heftiges Beben erschüttert wird [...]. An jenem Tag kommen die Menschen in verschiedenen Gruppen hervor, damit ihnen ihre Werke gezeigt werden. Wer nun Gutes im Gewicht eines Stäubchens tut, wird es sehen. Und wer Böses im Gewicht eines Stäubchens tut, wird es sehen“ (Sure 99,1–8). „Zu deinem Herrn erfolgt die Rückkehr“ (Sure 96,8). „(Er), der den Tod und das Leben erschaffen hat, um euch zu prüfen (und festzustellen), wer von euch am besten handelt“ (Sure 67,2). „Wisst, dass das diesseitige Leben nur Spiel und Zerstreuung ist, Schmuck und Prahlerei unter euch [...]“ (Sure 57,20). „[...], dass keine Last tragende (Seele) die Last einer anderen tragen wird. Dass für den Menschen nur das bestimmt ist, wonach er strebt, dass sein Streben sichtbar werden wird und dass ihm hierauf voll dafür vergolten wird. Dass das Ende des Weges zu deinem Herrn führt.“ (Koran 53,38–42).
Dass der Mensch seinen Weg zu Gott mit großer Anstrengung beschreitet und dass die Schöpfung des Menschen nicht zwecklos ist, dass die Menschen nicht sich selbst überlassen bleiben und dass Gott die Macht hat, ihn lebendig zu machen, dass der Mensch im Jenseits Vergeltung erfährt und dass er durch Gott geprüft wird, dass das weltliche Treiben Spiel und Vergnügen ist und eine Sache des Stolzes – all das geht auf ein religiös-deutendes Verständnis vom Menschen zurück, das die Welt im Sinne einer Wirklichkeit auslegt, die nicht nichtig ist (nicht ‘abaë), die ihre Wahrheit hat (áaqqânîya) und nicht nichtig (nicht bâéil). Dieses Vorverständnis leitet die angeführten Sichtweisen.
Ein weiteres wichtiges Argument für die Richtigkeit meiner Behauptungen sind jene Ausdrücke, die wir im Koran für die Stunde der Auferstehung des Menschen (qiyâma und áašr) finden, so zum Beispiel „der Tag der Scheidung“ (yawm al-faœl) (Sure 44,40), „der Tag, an dem Gott zur Rechenschaft zieht“ (yawm al-áisâb) (Sure 24,35) und „der Tag, da Er euch zum Tag der Übervorteilung zusammenführt“ (yawm at-taøâbun) (Sure 64,9). Ausdrücke wie faœl, Scheidung, áaqq, Wahrheit, bâéil, Falschheit, zur Rechenschaft ziehen und ähnliche stehen im Zeichen einer auslegenden Deutung der künftigen Situation des Menschen im Jenseits und sind keine dogmatischen Aussagen über die Transzendenz an sich. Sieht man genauer hin, so ist der Ausdruck al-yawm al âãir, der andere Tag, der in vielen Versen des Korans im Zusammenhang mit áašr, qiyâma und aãarât verwendet wird, ein vernunftgemäß-deutender Begriff. Dass das weltliche Leben als „der erste Tag“ bezeichnet wird und das uãrawî-Leben als „der andere Tag“, geht auf ein deutendes Verständnis des Schicksals und der Geschichte des Menschen zurück. Diese Ausdrücke stehen nicht im Zusammenhang mit bloßen Mitteilungen und Informationen, sie geben nicht einfach Nachricht über Zustände oder Verhältnisse im Jenseits (øayb).
Die prophetische Lesart von der Geschichte der Völker
Ähnlich wie in Bezug auf das Naturgeschehen und das Schicksal des Menschen sind auch die Aussagen des Korans bezüglich der Geschichte der Völker zu verstehen. Es gilt auch für die Bühne der Geschichte, dass alles im Licht einer Wechselbeziehung zwischen Gott und Mensch gesehen wird. Gott wird als der unbegrenzt Wirkende in der Geschichte gesehen. Signifikant sind dafür wieder einige Verse des Korans, wenn es dort heißt: „Und Wir haben in der Schrift nach der Ermahnung geschrieben, dass meine rechtschaffenen Diener die Erde erben werden“ (Sure 21,105). „Wir peinigen nicht, ehe Wir einen Gesandten haben erstehen lassen. Und wenn Wir eine Stadt verderben wollen, befehlen Wir denen, die in ihr üppig leben, (zu freveln), und sie freveln in ihr. Somit wird der Spruch zu Recht gegen sie fällig, und Wir zerstören sie vollständig. Und wie viele Generationen nach Noach haben Wir verderben lassen“ (Sure 17,15–17). „Gott gehört, was in den Himmeln und auf der Erde ist [...]. Wenn Er will, lässt Er euch, ihr Menschen, fortgehen und andere nachrücken“ (Sure 4,132 f.). Zahlreiche Verse des Korans stellen auch die Entsendung der Propheten als göttliches Wirken in der Geschichte dar.
Die prophetische Lesart der gesellschaftlichen Verhältnisse
Der Text des Korans gibt nicht nur eine prophetische, auslegende Erfahrung vom Naturgeschehen, vom Schicksal des Menschen und von der Geschichte der Völker wieder, sondern bringt darüber hinaus auch eine solche Erfahrung im Hinblick auf das gesellschaftliche Leben der Bevölkerung im Hidschaz zum Ausdruck. Wobei festzuhalten ist, dass die moralischen Grundsätze und die religiösen Vorschriften(aákâm) des Korans gleichsam als Nebenprodukte dieser Erfahrung anzusehen sind. Im Text des Korans und in den gesellschaftlichen Verhältnissen ist Gott mit dem Menschen im Zustand einer Wechselbeziehung. Jene Art des gesellschaftlichen Lebens, die mit dem Willen Gottes, wie er sich im Koran und im Wesen der Gesellschaft kundtut, nicht im Einklang steht, wird als ein widerwärtiges Leben empfunden. Da der Verlauf und das Ende des menschlichen Lebens dem Text des Korans zufolge und dem Wesen der gesellschaftlichen Verhältnisse entsprechend dem Willen Gottes unterworfen sind, müssen die gesellschaftlichen Tatsachen damit übereinstimmen. Daraus ergibt sich, dass im Lichte der Lesart des Propheten die Bevölkerung des Hidschaz aufgefordert ist, ihre gesellschaftlichen Verhältnisse, ob sie nun die Gottesdienste oder die Geschäfte betreffen, entsprechend zu ändern.
Diese Änderungen müssen auf dem Boden von tawáîd, des Glaubens an die Einheit und Einzigkeit Gottes, erfolgen und die Durchführung von Gottesdiensten betreffen, Frömmigkeit und Gerechtigkeit, Rechtschaffenheit, gerechte Behandlung (inœâf), Bevorzugung anderer (îëâr), die Bereitschaft zu verzeihen u. dgl. m. – all das muss in Übereinkunft stehen mit den Erscheinungen Gottes. In Wahrheit wird von den Menschen erwartet, dass sie nicht nur bei der Betrachtung der Welt und deren Interpretation, sondern auch hinsichtlich ihrer Aktivitäten in der Welt sich ganz der absoluten Herrschaft Gottes ergeben. Die umfassende Bezeichnung für diese Lebensart lautet im Koran ‘ubûdîya, was so viel heißt wie Unterwerfung, Knechtsein. Im Koran werden eine Reihe von aktuellen gesellschaftlichen Vorgängen und Beziehungen in Hidschaz als Formen der Unterdrückung (üulm), des Übergriffs (i‘tidâ’) und des Bösen (šarr) ausgelegt und wird befohlen, sie zu meiden. An ihrer Stelle werden andere Handlungen und Beziehungen vorgestellt und angeordnet, die im Sinne von Gerechtigkeit, von Rechtschaffenheit und gerechter Behandlung (inœâf) u. ä. gesehen werden. Fast in allen Fällen, die im Koran erwähnt werden und wo es um Gebote geht, die die menschlichen Beziehungen und die gesellschaftlichen Verhältnisse betreffen, handelt es sich um eine Art moralische Klärung der Umstände und Argumente, die zu den betreffenden moralischen Grundsätzen führen. Im Lichte der prophetischen Lesart folgen die Menschen, wenn sich die betreffenden Beziehungen und Normen vom Unmoralischen zum Moralischen, von ungerechten Vorgehensweisen zu gerechten hin verändern, dem Willen Gottes.
Alle Gebote des Korans, die gottesdienstliche und geschäftliche Angelegenheiten betreffen, zeigen in diese Richtung. Sie beruhen auf einem auslegenden Verständnis [fahmî tafsîrî] von gesellschaftlichen Beziehungen und Verhältnissen, die mit dem Willen Gottes übereinstimmen oder eben nicht übereinstimmen. Was in diesem Zusammenhang wichtig oder richtungsweisend ist, ist der Umstand, dass ein Urteil über die gegebenen zwischenmenschlichen Beziehungen und über die Beziehung der Menschen zu Gott immer nur einen Sinn haben kann, wenn sich dieses Urteil auf eine konkrete Gesellschaft bezieht und auslegender Natur ist. So wird etwa die Art eines bestimmten Gottesdienstes, der in einer götzendienerischen Gesellschaft üblich ist, beobachtet und in der Folge die Hinkehr zum Glauben an einen einzigen Gott gefordert. Oder es geht um einen bestimmten Sektor zwischenmenschlicher Beziehungen in der betreffenden Gesellschaft, zum Beispiel um eine als repressiv empfundene Ordnung der familiären Verhältnisse: wenn eine Ordnung dieser Art abgelehnt und die Forderung erhoben wird, gerechte Verhältnisse zu schaffen. Dieses Urteil, ob etwas einen repressiven Charakter hat (üâlim) oder gerecht ist (‘âdil), bezieht sich immer auf konkrete gesellschaftliche Verhältnisse und sie wollen darüber befinden. Diese Urteile ähneln naturgemäß Urteilen eines Richters, die sich auf bestimmte, ganz konkrete Vorkommnisse in einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort beziehen. Beruht doch die Bewertung bestimmter gesellschaftlicher Verhältnisse als gerecht oder ungerecht immer auf einer Interpretation dessen, was Unterdrückung oder Gerechtigkeit bedeutet, und es läuft in dieser Hinsicht alles auf das Urteil eines Richters hinaus, das dieser auf der Grundlage seiner Interpretation der geltenden Gesetze fällt.
Es wird also dabei nur über bestimmte Vorkommnisse in einer Gesellschaft geurteilt, und solche Urteile können nur auf andere Fälle angewendet werden, wenn sie die gleichen Merkmale aufweisen. Die Einschätzung, dass in den zwischenmenschlichen Beziehungen oder in der Beziehung Gott etwas sein ‚muss’, steht einem ‚alles, was ist’ gegenüber. Indem es sich auf eine bestimmte Tatsache bezieht, will das ‚Muss’ etwas im Bereich ‚alles dessen, was ist’ verändern. Werden bestimmte gesellschaftliche Zustände oder Situationen im Sinne von Unterdrückung (üulm) ausgelegt und deren Veränderung durch gesellschaftliche Verhältnisse gefordert, die im Sinne von Gerechtigkeit interpretiert werden können – alle Urteile dieser Art sind als auslegende Lesart zu verstehen.
Beispielhaft für solche Fälle sei auf die folgenden Stellen im Koran hingewiesen:
Was die Bestimmungen anbelangt, die sich auf den Tatbestand der ‚Wiedervergeltung’ beziehen, sind diese Sure 2,178 f. zufolge, auf der Basis eines auslegenden Verstehens dessen geordnet worden, was ‚Verzeihen’ (‘afw), ‚rechtliche Weise’ (ma‘rûf), ‚gute Weise’ (iásân), ‚Übertretung’ (i‘tidâ’), ‚Leben’ (áayât)und deren Korrelate bedeuten.
Nach diesen Versen kommen andere, die die Bestimmungen bezüglich letztwilliger Verfügungen zum Inhalt haben (Sure 2,180–182), die auf der deutenden Grundlage von ‚gut’ (ãayr), ‚rechtliche Weise’(ma‘rûf), ‚Gottesfurcht’ (taqwâ), ‚Schuld’ (iëm)‚ ‚friedliche Regelung unter den Menschen’ geschrieben worden sind.
Die Verse 2–35 der Sure 4 haben die Bestimmungen über sexuellen Verkehr, Heirat, Lebensunterhaltszahlungen an die Ehefrau und die Kinder zum Gegenstand: sie werden auf der Grundlage auslegender Deutung von ‚Reue und Buße’ (tawba), ,Reinheit des Charakters’, ‚Gottesfurcht’ (taqwâ),‚friedliche Regelung unter den Menschen’, ‚das Recht eines Menschen gegenüber einem anderen Menschen’, ‚rechtliche Weise’ (ma‘rûf), ‚gute Weise’ (iásân), ‚Berücksichtigung von Geboten Gottes’, ,der Seele (nafs) keinen Schaden (üulm) zufügen’ [sich selbst nicht unterdrücken], ‚beiderseitige Zufriedenheit’, ‚Ermahnung’ (wacü), ‚reinere und ungemischtere Tat’, ‚den Anderen nicht schaden’, ‚sich miteinander beraten’, ‚Gottesfurcht’ (taqwâ), ‚Verzeihen’ (‘afw) u. ä. erwähnt. Und diese Gebote beziehen sich auf die angeführten Tugenden (faúâ’il).
In den Versen 278–283 von Sure 2 geht es um die Bestimmungen über Zinsen, Darlehen und Zeugenaussagen. Es sind dies Gebote auf der deutenden Grundlage von ,Gerechtigkeit’ (‘adâla), ,echter Frömmigkeit’, ,Wahl eines Zeugen mit Zustimmung’, ,Gerechtigkeit’ (qisé), ,Aufrichtigkeit der Zeugenaussage’, und dem ,Unterlassen, anderen zu schaden’ und zugeordneter Begriffe.
In Sure 5 handeln die Verse 1–6 von verschiedenen Geboten zu den Themen Vertragsabschlüsse (‘uqûd), erlaubte und verbotene Speisen und sexuelle Beziehungen von Mann und Frau. Sie alle basieren auf einem auslegenden Verständnis von ,Treue zu Vereinbartem’, ,Unterlassen von Übergriffen’ (‘adam i‘tidâ’), ,Nichtmitwirken bei sündigem Tun und Feindschaft’, ,Vermeidung von Frevel’ (fisq), ,Gottesgabe’(ni‘ma), ,Betroffensein in Schwierigkeiten’, von ,erlaubten Genüssen’ (tayyibât), ,reinen geschlechtlichen Beziehungen (von Frauen und Männern) und deren Grenzen’, ,verheirateten Männern’ (muáœinîn) und ,verheirateten Frauen“ (muáœanât), die im Schoß der Familie geborgen sind.
In den Versen 275–280 von Sure 2 ist die Bestimmung über das Verbot von Zinsen auf der Grundlage eines deutenden Verständnisses von ,durch den Satan verführt sein’, ,zurückweisen eines Gleichsetzens von Zinsen und Verkauf’, ,echte Frömmigkeit’, ,Nichtunterdrücken und Nichtunterdrücktwerden’, ,den Schuldner in seiner Not nicht unter Druck setzen’ u.dgl.m.
Die Verse über das Töten im Krieg (qitâl), die sich in verschiedenen Suren des Korans finden, sie alle sind aufgrund von Bestimmungen über das Kriegführen im Blick auf das ,Vermeiden von Übergriffen’, von ,Friede’ (salâm, silm, œulá) und ,Krieg bis zur vollständigen Unterdrückung des Aufruhrs’ geschrieben. Vielleicht ist das auch der Grund dafür, dass diese Bestimmungen (aákâm) áukm genannt werden – ein Wort, das vorwiegend bei der Rechtsprechung verwendet wird. Denn alle diese Bestimmungen haben die Natur von Urteilen im Rahmen der Rechtsprechung gehabt. So gesehen wird die Bedeutung vonman lam yaákum bi-mâ inzâl Allâh klar, nämlich dass die Bestimmungen hinsichtlich bestimmter gesellschaftlicher Verhältnisse dem entsprechen müssen, was der Prophet gesagt hat, und nicht anders.
Dies alles spricht eindeutig für die Annahme, dass die religiösen Vorschriften (al-aákâm aš-šarcîya) des Korans auf einem deutenden Verständnis der gegebenen gesellschaftlichen Tatsachen und Verhältnisse im Hidschaz beruhen sowie auf dem der gottesdienstlichen und religiösen Verhältnisse in dieser Gesellschaft und ihrer Beziehung zu Gott. Ziel der koranischen Aussagen war es, die Zustände in der gesamten Gesellschaft in einer Weise zu ordnen, dass sie dem Willen Gottes entsprechen. Die Regelungen wurden keineswegs für alle Gesellschaften zu allen Zeiten erlassen. Eine ganz andere Sache bedeutet die Tatsache, dass die Muslime in den ersten Jahrhunderten der Geschichte des Islams die Wissenschaft des fiqh, des islamischen Rechts hervorgebracht haben, im Interesse der Regelung ihrer eigenen Angelegenheiten sowie der ihrer Regierungen. Wie oben erläutert, geht die Sinnspitze der koranischen Aussagen in eine andere Richtung. Selbstverständlich werden darin von allen Menschen die allgemeinen Wertgrundsätze, wie Gerechtigkeit, aufrichtiger Glaube, Gutes tun etc. verlangt.
Die prophetische Lesart und der existentielle Glaubensvollzug (aáwâl wuçûdî)
In großen Teilen des Korans geht es bis in alle Einzelheiten um Orientierungen für das Verhaltens jedes einzelnen Menschen zu Gott: so vor allem im Hinblick auf Gebet (du‘â’), Dankbarkeit (šukr), Geduld(œabr), Zufriedenheit (riúâ), Gottvertrauen (tawakkul), Reue (inâba, tawba), Bitte um Sündenvergebung (istiøfâr), Bitte um Hilfe (istiøâëa), Lobpreis (tasbîá), Freisprechung (tanzîh), Demut vor Gott (qunût), inständiges Bittgebet (taúarruc), Pflichtgebet (œalât), Verbeugung (rukû‘),Prostration (suçûd), Fasten (œawm), Spenden (infâq), Hoffnung (raçâ’), Angst (ãawf), Ruhe finden(iémi’nân), Glaube (îmân), Kummer (áuzn), Verzweiflung (ya’s), Eile (‘açala) u. dgl. m. Alle diese Orientierungsweisen beruhen auf der Notwendigkeit der Übereinstimmung des Menschen mit dem absoluten Wirken Gottes in der Welt und alle diesbezüglichen Aussagen des Korans werden in diesem Sinne kommentiert. Die muslimischen Mystiker haben die Aussagen des Korans, die diese Verhaltensweisen betreffen, tiefsinnig und bis ins Einzelne gehend erkundet und Werke über die verschiedenen Zustände (áâlât) und Wegstationen (maqâmât) des Menschen verfasst und sich der Beschreibung und Erklärung des mystischen Weges (éarîqa) gewidmet.
In diesen Aussagen des Korans kommt die hermeneutische Erfahrung, die der Prophet in der Begegnung mit der Welt macht, in klarer Weise zur Sprache. In ihnen zeigt sich, wie die Offenbarung(waáy) einerseits das Meer seiner Seele aufgewühlt hat und wie die dem Menschen eigene innere Unruhe ihn zu einer Erfahrung seines Menschseins geführt hat: zur Erfahrung eines nie zur Ruhe Kommenden. Zugleich ist im Koran al-îmân bi-llâh, der Glaube an Gott, das wichtigste Gebot des Propheten – ein Begriff, dessen Stamm âmin ist, und eben jene ‚existentielle Sicherheit’ des Menschen meint. Diese Sicherheit steht der existentiellen Unruhe gegenüber, und das oftmalige Wiederholen des Ausdrucks al-îmân bi-llâh in den Versen des Korans zeigt, wie die existentiellen Zustände des iúéirâb, der Unruhe, und der amnîyat, der Sicherheit, den Propheten nie verlassen haben.
Fassen wir das bisher Gesagte zusammen. Es wird deutlich, dass in der prophetischen Lesart der Welt sich in sämtlichen Naturphänomenen und in der Weise, wie das Schicksal und das Ende des Menschen und der Geschichte der Völker bestimmt sind, das Erscheinen einer Transzendenz [nämlich Gottes] zeigt. Dieser Gott selbst bleibt in seinem Erscheinen zwar transzendent, doch kann sein Handeln sich in seiner Tätigkeit, af‘âl, bzw. in seinen Erscheinungen, âyât, kundtun. In mehr als 400 Fällen bezeichnet der Koran dieses vielfältige Erscheinen als âyât. Und indem er darauf hinweist, dass alle Wesen Erscheinungen sind, bekennt der Prophet [in seiner Lesart der Welt] das fa‘âlîya ‘alâ l-iélâq, das absolute Wirken jener Transzendenz und folglich seine absolute Göttlichkeit. Er spricht mit Ihm, er lobt Ihn, er dankt Ihm, er bittet Ihn um Hilfe, unter Berufung auf Ihn verkündet er den Menschen gute Nachrichten oder flößt ihnen Angst ein; er fordert die Menschen auf, die Wirklichkeit ihres gesellschaftlichen Lebens mit seinem Willen in Einklang zu bringen. Der Prophet lobt seine Erscheinungen. All das beruht auf einer auslegenden Sicht der Welt, auf einem bestimmten Vorverständnis von der Welt, das sich aus der Gotteserfahrung des Propheten ergibt, die ihm durch Offenbarung zuteil wird. Die Verse des Korans sind daher keinesfalls Ausfluss philosophischer Prämissen, die bezwecken, über die irdische Wirklichkeit oder über das Verborgene (øayb) etwas mitzuteilen (auch wenn die muslimischen Philosophen darüber später philosophische Diskurse führten). Es sind vielmehr die Bekenntnisse des Propheten des Islams im Angesicht des transzendenten Gottes. Das Bekenntnis, dass Du überall gegenwärtig bist. Das Bekenntnis, dass Du mich durch deine Offenbarung hellhörig gemacht hast für Dich. Das Bekenntnis, dass Du mich fähig gemacht hast, so zu sprechen und darüber hinaus über all dies Zeugnis abzulegen meinen Adressaten gegenüber und sie einzuladen zum Glauben an Gott.
In dieser prophetischen Lesart geht die Erfahrung Gottes Hand in Hand mit dem auslegenden Verständnis der Welt. Gott wird in einer Weise begriffen, die die Wirklichkeit der Welt als seine Erscheinung (namûd) sieht. Die Welt wird religiös verstanden, weil sie als Erscheinung Gottes verstanden wird. Das Sprechen über Gott ist für den Menschen somit unlösbar verbunden mit seinem Verständnis der Welt und ihrer Deutung.
In dieser Lesart bezeugt sich die Gegenwart Gottes durch sein ununterbrochenes Erscheinen. Gott ist gegenwärtig, weil er in jedem Augenblick die irdische Wirklichkeit trägt. So gesehen sprechen die Attribute Gottes von den fortgesetzten Erscheinungen Gottes und seine Wesensattribute sind also nicht seine ersten Attribute. Er ist gegenwärtig, weil er fortgesetzt die Welt schafft und sie wieder vernichtet. Die ständige Schöpfung der Welt ist jenes Erscheinen, in dem sich Gott zeigt und zugleich verbirgt. Er ist der Anfang und das Ende, das Äußere und das Innere. Diese Erfahrung, die getragen ist vom Lesen der Zeichen, die Gott setzt – sie geht über in einen Höhenflug, der das Subjekt der Erfahrung über die Welt hinaus trägt und das göttliche Wesen als Licht erfahren lässt. So heißt es in Sure 24, Vers 35: „Gott ist das Licht der Himmel und der Erde. Sein Licht ist einer Nische vergleichbar, in der eine Lampe ist. Die Lampe ist in einem Glas. Das Glas ist, als wäre es ein funkelnder Stern. Es wird angezündet von einem gesegneten Baum, einem Ölbaum, weder östlich noch westlich, dessen Öl fast schon leuchtet, auch ohne dass das Feuer es berührt hätte. Licht über Licht. Gott führt zu seinem Licht, wen Er will [..].“
In dieser religiösen Lesart der Welt finden wir verschiedene Arten von Gleichnissen, von Bildern, Erzählungen und Weisheiten in mannigfachen Stilen der Mahnung, indâr, und der frohen Botschaft,tabšîr. Zugleich gehört der Koran nicht zu jener Gruppe von Schriften, die von bestimmten Autoren verfasst worden sind und durch sie eine bestimmte Gliederung erhalten haben. Der Koran ist weder Prosa noch Lyrik. Er ist eine prophetische Lesart der Welt.
Selbstverständlich tritt uns in dieser Lesart der Charakter des Propheten in den unterschiedlichsten Weisen gegenüber. So kann man durch eine Art psychologische Textanalyse jenen Propheten selbst, dem durch die Offenbarung, waáy, dieses Lesen nicht nur eröffnet wurde, sondern dem dabei gar keine andere Wahl blieb, psychologisch analysieren. Die Beschreibungen von Paradies und Hölle, der barmherzige oder zornige Ton mancher Verse, die harte Strenge mit den Ungläubigen und viele andere Merkmale dieses Textes sind wie ein Spiegelbild des Charakters und der Qualität des Propheten des Islams.
4. Einige Folgerungen aus den dargestellten Thesen
Abschließend möchte ich auf einige wichtige Folgerungen hinweisen, die sich aus den vorausgegangenen Überlegungen ergeben.
1) Was ich in diesem Beitrag vorgelegt habe, ist eine Einführung in eine vernunftgemäße (‘aqlânî)Auslegung des ehrwürdigen Korans, der für die Muslime das maßgebliche religiöse Buch ist. Diese vernunftmäßige Lesart macht die religiöse Botschaft des Textes kund, die man zusammenfassend mit dem Begriff tawáîd wiedergeben kann, bei dem es um die gläubige Betrachtung der Einheit der Welt in einem umfassenden Sinn geht und um die Gestaltung des Lebens aus diesem Glauben. Der Koran ist schlichtweg Ausdruck des „Einheitsbekenntnisses des Propheten des Islams“. Wie sich die Welt im Koran spiegelt, so hat der Prophet die Welt betrachtet, und dementsprechend sein Leben gestaltet.
2) Der Koran ist in seinem auslegenden Verständnis der Welt selbst eine Erscheinung, namûd – ein Symbol, ein Hinweis. Alles, was in seinem Wesen ein solches Symbol ist, kann wiederum nur auslegend verstanden werden. Und das nur in Hinsicht auf einen Aspekt und nicht auf die ganze Wahrheit jenes Symbols. Das heißt, dass die Lesart der Welt, die dem Propheten des Islams eignet, nicht die ganze „göttliche Wahrheit’ in sich begreifen kann, weil sie nur eine Lesart ist. Begegnen wir dem Text des Korans, begreifen wir, dass diese Lesart mit einer nach außen in Erscheinung tretenden Wirklichkeit zu tun hat, und zugleich mit einer, die nach innen verborgen bleibt. Deshalb können wir nicht die ganze Botschaft des Textes ausschöpfen, können sie nicht zur Gänze verstehen, sondern bleiben immer auf ein auslegendes Verstehen angewiesen. Zugleich wissen wir, dass jedes Verstehen und jede Deutung (fahmund tafsîr) hinter dem Anspruch der ganzen Wahrheit, mit der wir es hier zu tun haben, zurückbleiben muss. Wir werden es bei allen Auslegungen immer mit den beiden Merkmalen ‚offenbar’ und ‚gleichzeitig verborgen’ zu tun haben. Daraus ergibt sich, dass weder die Botschaft des Korans selbst – der Einheitsglaube, der den Propheten des Islams beseelte – die endgültige Auskunft (pers.: gozâreh) über die göttliche Wahrheit beinhalten kann, noch irgendeine andere deutende Auslegung, von der man behauptet, dass sie vom Standpunkt der Interpretation dieser Botschaft möglich sei.
3) Um die prophetische Lesart (des Korans) verstehen und auslegen zu können, kann man nicht von bestimmten Regeln und Gesetzen ausgehen. Jeder Interpret muss selbst dafür einstehen, dass seine Auslegung dieser Lesart tatsächlich gerecht wird oder sie verfehlt. Çalal ad-Dîn ar-Rûmî ist bei seinen Bemühungen um ein deutendes Verstehen keinen bestimmten Regeln und Gesetzen gefolgt. Er hat zum Verständnis dieser prophetischen Lesart beispielsweise auf einen Elefanten hingewiesen, der sich in einer finsteren Kammer aufhält, oder auf den Streit des Arabisch-, Persisch- und Türkischsprachigen über das Wort angur (Traube). Im Zusammenhang mit der Interpretation der Beziehung von Welt, Mensch und Gott kam Rûmî einmal zu dem Schluss:
„Wir stammen aus dem Meer und gehen ins Meer;
wir stammen aus dem Jenseits und gehen ins Jenseits;
wir sind die Barke des Noach, ausgesetzt dem Sturm des Geistes.
So bewegen wir uns ohne Fuß und ohne Hand.“
wir stammen aus dem Jenseits und gehen ins Jenseits;
wir sind die Barke des Noach, ausgesetzt dem Sturm des Geistes.
So bewegen wir uns ohne Fuß und ohne Hand.“
Oder er forderte von uns allen in vielen seiner Gedichte, dass wir den stürmischen Wellen der absoluten Erscheinungen Gottes keinen Widerstand entgegensetzen und uns von ihnen treiben lassen.
Versteht Mullâ Œadrâ, der große islamische Philosoph, die Lesart des Propheten so, dass alle Wesen „Taten und Emanation, šu’ûn, des erhabenen Gottes“ sind und als solche kein eigenständiges Dasein haben, dass „die Wahrheit der Kontingenz existentielle Armut“ ist, folgt auch er bei dieser Interpretation keinen im voraus festgelegten Regeln und Gesetzen.
Tatsache ist, dass es die muslimischen Mystiker waren, die das Thema des koranischen Einheitsglaubens mehr als alle Anderen behandelt haben. Sie haben gewissen Ausdrücken in den Versen des Korans besondere Aufmerksamkeit geschenkt und ein wohlgeordnetes System von mystischen Erfahrungen unter der Bezeichnung áâlât (seelische Zustände) und maqamât (Stationen auf dem Weg) aufgestellt. Vielleicht hat Abû Naœr as-Sarrâç zum ersten Mal das bestgeordnete System in seinem Buch „al-Luma‘ fî t-taœawwuf“ vorgelegt. Sie sind einen Weg gegangen, den man in dem wertvollen Buch von Paul Nwyia „Exégèse coranique et langage mystique“ (Beirut 1972) studieren kann. Jedenfalls hat die Lesart der hervorragenden muslimischen Mystiker vom „Einheitsglauben“ (tawáîd) das Verständnis der einheitsgläubigen Lesart des Korans in ein ganz neues Stadium geführt. Sie haben von diesem Verständnis ein reines und unverfälschtes Bild gezeichnet, auch wenn selbst die Lesart der Mystiker nicht das letzte Wort in dieser Hinsicht sein kann. Selbstverständlich hat sich die islamische Mystik unter dem Einfluss anderer mystischer Schulen weiter entwickelt.
Die Frage, mit der die muslimischen Denker heute konfrontiert sind, lautet: Wie kann man den „Einheitsglauben“ in der Lesart des Korans heute verstehen und auslegen? Und wie kann man in der heutigen Zeit ein Weltverständnis im Licht des „Einheitsglaubens“ gewinnen und daraus leben? Wie ist in einer Welt, in der der Mensch in so nachhaltiger Weise in die Natur eingreift und die Geschichte weitgehend in der Kraft seines Wissens und seines Willens gestaltet, ein Weltverständnis im Sinne des „Einheitsglaubens“ möglich? Mit anderen Worten: Für die muslimischen Denker der Gegenwart, wie für alle anderen Gläubigen, ist „Gott“ in unserer Zeit zum entscheidenden Thema geworden.
Das Prophetentum, nabuwwa, und die Offenbarung, waáy, haben im Koran den Charakter einer ‚Methodik’, éarîqîyat, und nicht den einer ‚Objektivität’, mawúû‘îyat. Sie hatten ihre Bedeutung im Zusammenhang mit der Präsentation des Einheitsglaubens, tawáîd, sonst jedoch keine weitere Funktion. Der Prophet des Islams ist in koranischer Sicht ein großer Vertreter der einheitsgläubigen Lesart der Welt, deren Begründer die früheren Propheten waren. Die Bedeutung des Muslimseins in unserer Zeit liegt darin, an dieser Lesart des Einheitsglaubens teilzuhaben. Was in den vergangenen 14 Jahrhunderten als Religion des Islams Gestalt angenommen hat, muss heute im Licht des Einheitsglaubens neu bewertet werden; darin und in nichts anderem liegt meines Erachtens die Bedeutung der Reform der islamischen Religion in unserer Zeit. Und da die Wahrheit nie zur Gänze und vollständig ausgelotet werden kann, ist kein Wort in diesem Gespräch des Einheitsglaubens im Sinne eines letzten Wortes denkbar; für dieses Gespräch kann es auch keinen geben, der dafür als Betreuer verantwortlich ist. Unsere Aufgabe ist vielmehr auslegender Art, liegt in einem ständigen Auslegen.
Ich möchte an dieser Stelle auch betonen, dass es für die Muslime heute sehr wichtig sein wird, nicht nur die tiefen Einsichten und Auslegungen zu bedenken, die man in der islamischen Philosophie und Mystik hinsichtlich der Gottesfrage finden kann, sondern im Zusammenhang mit diesem Thema auch andere Überlegungen und Auslegungen zu berücksichtigen, die in unserer Zeit zu diesem Thema vorgelegt werden. Als ansprechende Beispiele für solche neuere Denk- und Deutungsversuche seien hier angeführt, Gott als „Bedeutung in allen Bedeutungen“, als „Sinn aller Sinne“ zu verstehen und die Welt als das Insgesamt von Bedeutungen, deren Bedeutung Gott ist16; oder Gott als „Geheimnis der Welt“17 zu begreifen und schließlich den Weg der vertieften Selbsterkenntnis auf dem Weg der Erkenntnis eines ‚Du’ oder ‚Er’ (Gott) zu beschreiten.18
4) Im Sinne jener philosophischen Definition, die am Beginn unserer Überlegungen zum Wesen der Sprache stand, gibt es keinen Satz, zu dessen Verständnis es keiner weiteren Erkenntnisse bedürfte, die außerhalb dieses Satzes stehen. Grund dafür ist die Tatsache, dass sich nicht nur die Bedeutung der Wörter und Sätze im Lauf der Zeit ändert, sondern auch die ganze Syntax und Semantik einer bestimmten Sprache. Aufgrund dieses Prinzips, das als Allgemeingut heutiger Sprachphilosophie anzusehen ist, können wir nicht damit rechnen, dass das, was die Muslime heute unter bestimmten Wörtern und Sätzen im Text des Korans verstehen, unbedingt mit dem deckungsgleich ist, was am Anfang der Textwerdung des Korans stand. Auch wenn das Ermitteln dieser Bedeutungen oftmals eine mühsame und langwierige Angelegenheit ist, müssen wir dessen ungeachtet den Grundsatz beachten, dass die Bedeutung eines bestimmten Wortes oder Satzes im Koran nicht notwendigerweise mit dem übereinstimmt, was wir heute darunter verstehen.
Das würde besagen, dass Wörter wie ‚Himmel’, ‚Erde’, ‚Dschinn’, ‚Engel’, ‚Auferstehung der Toten’ oder ‚Treueid’, ‚Beratung’, ‚Gerechtigkeit’ u. a. im Text des Korans eben jene Bedeutung haben müssen, die sie in der Zeit der Entstehung dieses Textes hatten. Es ist daher unzulässig, zum Zwecke der Anpassung der Bedeutung des koranischen Textes an die heutige Wissenschaft oder Philosophie für die betreffenden Wörter andere Bedeutungen zu postulieren. Jene vernunftmäßig-deutende Erfahrung des Propheten von der Welt, die ich im Vorausgegangenen erläutert habe, wurde in jene arabische Sprache umgesetzt, die eben in dieser bestimmten Zeit die Sprache des Propheten war. Diese Sprache hat jedoch ihre Bedingungen und Grenzen. Kann doch kein Zweifel daran bestehen, dass der Prophet, als er von ‚Himmel’, ‚Erde’, ‚Sonne’ und ‚Mond’, von bestimmten historischen Ereignissen oder vom Schicksal und Ende des Menschen sprach, darunter eben das verstand, was man darunter in der arabischen Sprache von damals ganz allgemein verstanden hat. Seine prophetische, hermeneutische Erfahrung von der Welt nahm mittels der Bedeutungen und Begriffe der arabischen Sprache seiner Zeit Gestalt an. Auf diese Weise ist es durchaus möglich, dass wir im Licht der modernen Wissenschaft und Philosophie im Koran Sachverhalten begegnen, die wir heutzutage dem Bereich des Mythos zurechnen würden, oder bestimmten Aussagen über die Natur oder die Geschichte, die den Einsichten der heutigen Wissenschaft widersprechen. Es ist sogar möglich, dass man generell die Sprache des Korans der ‚Sprache des Mythos’ zuordnet. All dies würde dem Verständnis dieses Textes im Sinne einer prophetischen Lesart der Welt,tawáîd, keinen Abbruch tun.
Die prophetische Lesart der Welt bedient sich zwar eines Weltbildes, das in der damaligen Zeit allgemein verbreitet war, sie will aber nicht geschichtliche und wissenschaftliche Aussagen über Details dieses Weltbildes erörtern. Im Koran werden alle diese Details in eben jener Bedeutung für das deutende Verständnis von der Welt übernommen, die ihnen in der arabischen Sprache und Kultur von damals eigen war. Doch werden sie im Koran für die Verkündigung einer Botschaft verwendet, die es in der arabischen Kultur zu dieser Zeit nicht gab. Und diese Botschaft ist die Botschaft des tawáîd, des Einheitsglaubens.
Ohne Zweifel ist die Welt des Propheten des Islams nicht unsere Welt. Sie ist sehr einfach und elementar, basîé. Es gibt in ihr kein ‚Atom’, keine Galaxien und kein Lichtjahr, kein Klonen und keine Raumschiffe, weder ‚Demokratie’ noch ‚Menschenrechte’ im heutigen Sinn. Wird in Sure 4,82 vom Koran gesagt, „Wenn er von einem anderen als Gott wäre, würden sie in ihm viel Widerspruch finden“, so ist unter dem Nichtvorhandensein von Widersprüchen gemeint, dass in diesem Text alles Seiende, alle Phänomene der Welt des Propheten ausnahmslos als Zeichen, âyât, Gottes betrachtet werden. So gesehen beinhaltet dieser Text keine andere Botschaft als die des ‚Einheitsglaubens’. Zweifellos gibt es im Text des Korans Stellen, die mit der Wissenschaft und Philosophie des 21. Jahrhunderts nicht übereinstimmen. Die größten muslimischen Mystiker, die die Sphäre des tawáîd durchschritten haben, waren von jener alten Kosmologie überzeugt, und ihr Himmel war „das geschützte Dach“. So ist es nicht verwunderlich, dass Áâfiü bei all seiner Erhabenheit und der Tiefe seiner Mystik sagte: „Was ist dieses hohe, einfache Dach mannigfaltiger Bilder? Kein Wissender in der Welt weiß Bescheid über dieses Rätsel.“ Sind heutzutage viele hervorragende Gelehrte und Philosophen von Mawlâna und Áâfiübegeistert, ist doch ihr Himmel nicht mehr das schützende Dach, sondern ein unendlicher Raum. So wird die Welt eines jeden Volkes zu allen Zeiten immer wieder jene Welt sein, die sich in der Sprache des jeweiligen Zeitalters widerspiegelt. Man kann die Welt als „Erscheinen Gottes“ verstehen und deuten, ob man den Himmel nun als schützendes Dach betrachtet oder als einen grenzenlosen Raum.
5) Die religiösen Gebote des Korans machen dabei keine Ausnahme. Sie hatten ihre Funktion darin, die gesellschaftlichen Verhältnisse, die zur Zeit des Propheten herrschten und mit dem fortgesetzten Erscheinen Gottes in der Welt nicht vereinbar waren, so zu verändern, dass sie damit vereinbar wurden. Kommen uns einige dieser religiösen Gebote heute roh und hart, ãašin, vor, gilt es zu bedenken, dass die Qualität des Rohen keine überzeitliche Definition kennt – ähnlich wie die Definition dessen, was ‚gerecht’ oder ‚ungerecht’ ist. Ist es doch möglich, dass ein Vorgehen, das in einer bestimmten Zeit und Gesellschaft als roh angesehen wird, in einer anderen Zeit nicht in gleicher Weise beurteilt wird. Was in einer bestimmten Gesellschaft und Zeit zur Bekämpfung von Feinden oder gesellschaftlicher Korruption als geeignet angesehen wird, und als angemessen, um den Rechten Gottes Geltung zu verschaffen, kann unter anderen gesellschaftlichen Bedingungen ganz anders bewertet werden.
Unter der Voraussetzung, dass bestimmte Gebote an die gesellschaftlichen Bedingungen der Entstehungszeit des Islams gebunden sind, sind wir verpflichtet, das, was in unserer Zeit als roh angesehen wird, außer Acht zu lassen. Die diesbezüglichen Verse sind in ihrem Inhalt nicht für unsere Epoche vorgesehen, wie ich schon mehrfach gesagt habe. Diese oder jene Strafen oder Urteile, die im Koran ausgesprochen werden, als für alle Zeiten gerecht und verbindlich anzusehen, kann vom Koran her nicht begründet werden; desgleichen kann nicht behauptet werden, dass im Koran jegliche Rohheit fehlt. In unserer Zeit müssen die gesellschaftlichen Bedingungen der Muslime auf der Grundlage eines vernunftmäßig-deutenden Verständnisses von Ethik und Gerechtigkeit im heutigen Sinne geregelt werden. Dabei ist aber zu berücksichtigen, welche gesellschaftlichen Verhältnisse im Widerspruch zu Ethik und Gerechtigkeit stehen bzw. welche damit übereinstimmen. Die Einstellung zu Fragen der Wirtschaft und Politik muss sich für Muslime aus diesem Verständnis von Ethik und Gerechtigkeit ergeben, nicht aber aus den üblichen Schlussfolgerungen, die aus der islamischen Rechtslehre, fiqh,gezogen werden. Darüber habe ich ausführlich in meinen Büchern über „Glaube und Freiheit“, „Kritik der offiziellen Lesart von Islam“ und „Reflexionen über die menschliche Lesart von Religion“ geschrieben. Besondere Bedeutung kommt auch der Frage zu, was wir genauerhin darunter verstehen, wenn wir von ‚Gerechtigkeit’ sprechen.
Die Lesart des koranischen Textes, wie ich sie in diesem Beitrag beschrieben habe, lässt die Rahmenbedingungen klar erkennen, auf denen meine früher entwickelten Theorien in meinen Büchern beruhen. Darin habe ich meine Überzeugung dargelegt, in welcher Weise die Muslime in ihre Kultur aufnehmen sollen, was in unserer Zeit unter ‚Menschenrechten’ und ‚Demokratie’ verstanden wird, ohne dass sie sich sinnlos abmühen, aus dem Koran und der Tradition ‚Menschenrechte’ und ‚Demokratie’ abzuleiten, die, wie die Erfahrung beweist, zu nichts führen als zu einem Verharren in religiöser und nichtreligiöser Tyrannei.
Damit soll nicht gesagt werden, dass man die islamische Rechtswissenschaft, fiqh, völlig außer Acht lassen soll. Die anerkanntermaßen wertvollen Bestimmungen und Grundsätze, die von den früheren Rechtsgelehrten (fuqahâ’) hinsichtlich verschiedener Bereiche menschlichen Handelns aufgestellt wurden und heute als Rechtstheorien vorliegen, sind ein bleibendes Vermächtnis, das unsere Wertschätzung verdient und nicht ohne grundlegende Bedeutung für unser gesellschaftliches Leben ist. Doch gilt es zu beachten, dass es sich dabei um Schlussfolgerungen menschlicher Gelehrter handelt, die nicht zu Hindernissen für die Akzeptanz von Menschenrechten und Demokratie werden dürfen. Für mich bestehen keine Zweifel, dass die Ablehnung von Menschenrechten und Demokratie in der islamischen Welt politische Ursachen und Bedingungen hat und dazu dient, vorhandene Elemente von Despotie aufrecht zu erhalten. Denn abgesehen davon steht der Annahme und Integration von Menschenrechten und demokratischer Ethik in die Kultur des Islams nichts im Wege.
6) Die vorausgegangenen Erläuterungen haben, wie ich hoffe, deutlich gemacht, was die Unfehlbarkeit des Propheten [‘iœmat an-nabî] aus der Sicht des Korans bedeuten kann: dass der Prophet durch Gottes Hilfe nie von einem Verständnis der Welt im Lichte des Einheitsbekenntnisses [fahm tafsîrî tawáîdî] abweicht und zu niemandem Anderen einlädt als zu Gott. In diesem Prophetentum und in dieser Sendung ist er unfehlbar [ma‘œûm]. Prophetentum und Unfehlbarkeit liegen also in dem Wie der Prophet die Welt sieht, und seine Sendung besteht darin, diese Sicht zu verkünden, nicht aber, um Aussagen philosophischer oder sonstiger wissenschaftlicher Art in einer unfehlbaren Weise zu tätigen.
7) Im weiteren sollte deutlich geworden sein, dass der Text des Korans in seiner vorliegenden Form im Zeichen einer einheitlichen Lesart steht. Die Bedeutung dieser Einheit seiner Lesart liegt darin, dass wir ihn unter dieser Annahme tatsächlich lesen können. Auch wenn er keine Einheit unter dem Gesichtspunkt der Verfasserschaft kennt, ist er doch als ein einheitlicher Text lesbar. Der Weg, den Text einer historischen Kritik zu unterziehen, wird zu einer genaueren Lesart führen. Das bedeutet aber nicht, dass wir den Text andernfalls nicht lesen könnten. Wir können ihn lesen, wie wir die Upaniœaden lesen können.
8) Von daher sollte klar geworden sein, dass das Verständnis des Korans und die Annahme seiner Botschaft nicht davon abhängt, dass wir vorher auf erkenntnistheoretischem Wege die Gültigkeit der Offenbarung nachgewiesen haben. Wenn der Text des Korans in sich lesbar und verstehbar ist, so lesen wir ihn ungeachtet dessen, ob wir zur Offenbarung selbst einen Zugang gefunden haben oder überhaupt verstehen können, was die Offenbarung ist. Die Botschaft des Korans lehrt die Menschen vielmehr – aufgrund einer wesentlichen Veränderung ihrer eigenen Sichtweise –, alle Phänomene der Welt als Erscheinungen Gottes verstehen zu lernen, sich in der Folge theoretisch und praktisch das Einheitsbekenntnis, tawáîd, zu Eigen zu machen und aus diesem Glauben zu leben. In diesem Zusammenhang stellt sich natürlich die Frage, warum wir überhaupt die Sichtweise übernehmen sollen. Dieses Warum wird immer die grundsätzliche Frage der Gläubigen sein. Doch hat das Sich-Einlassen auf diese Frage nichts mit der Frage zu tun, worin das Wesen der Offenbarung liegt und woher sie ihre Gültigkeit hat oder wie man die Offenbarung des Propheten als Grund für diese Sichtweise betrachten kann. Worum es mir in diesem Artikel geht, ist nicht ein Versuch, die Offenbarung verstehen zu wollen und die Möglichkeit unterschiedlicher Verstehensweisen von Offenbarung zu untersuchen. Es geht mir vielmehr darum festzuhalten, dass man den Text des Korans und dessen religiöse Botschaft verstehen kann, ohne notwendigerweise zu wissen, was Offenbarung in sich bedeutet.
9) Die Bedeutung der Offenbarung wird in der christlichen Theologie anders erklärt als im Koran. Christlicher Theologie zufolge sind die Adressaten Jesu mit der Offenbarung selbst konfrontiert worden, nicht aber mit dem, was aus der Offenbarung hervorgegangen ist. Die „Heilige Schrift“ ist das Zeugnis von der „geschichtlichen Interaktion Gottes mit seinem Volk“, während die Offenbarung eben diese Interaktion selbst meint.
In den letzten Jahrhunderten entwickelte sich dann die historisch-literarische Kritik der Heiligen Schrift als man daran ging, mithilfe der in den Geschichtswissenschaften üblichen Methoden das geschichtliche Zeugnis über diese historische Interaktion zu untersuchen. Man wollte über die historische Kritik der Heiligen Schrift eine Voraussetzung dafür schaffen, das religiös-historische Zeugnis über die Interaktion Gottes mit seinem Volk zu verstehen und damit einen Zugang zum Verständnis dessen zu gewinnen, wie diese Geschichte in Wahrheit Gestalt angenommen hat. Die christlichen Theologen, die sich dieser Aufgabe widmeten, sind von der Annahme ausgegangen, dass bei der geschichtlichen Interaktion Gottes mit seinem Volk den Menschen eine besondere Erkenntnis, die weder rationaler noch sinnlicher Art ist, zuteil geworden ist und dass man diese besondere Erkenntnis durch die historische Kritik rekonstruieren muss. Um diese Erkenntnis, die man als „Offenbarungserkenntnis“ bezeichnete, zu erlangen, hat man sich einerseits bemüht, die historische Beziehung der Heiligen Schrift zu Jesus Christus – der „Offenbarung in Person“ – zu klären, und anderseits dem besonderen erkenntnistheoretischen Charakter dieser Offenbarung (der weder rationaler noch sinnlicher Art ist) gerecht zu werden. Selbstverständlich hat sich dann im Verlauf dieser Bemühungen herausgestellt, dass die historische Kritik, so notwendig sie auch ist, für sich alleine zum Verständnis dieses Buches nicht genügt. Nach dieser Periode der literarisch-historischen Kritik der Heiligen Schrift kam es zu einer Reihe von Auslegungen, die Horst Klaus Berg in seinem wertvollen Buch in 13 verschiedenen Gruppen einteilte.19
Der Koran ist jedoch kein historischer Bericht des Propheten des Islams oder der Muslime über das Wie der geschichtlichen Interaktion Gottes mit seinem Volk, so dass dessen Verständnis ohne die historische Kritik nicht möglich wäre. Der Koran ist meiner Ansicht nach eine prophetische Lesart der Welt, und im Sinne meiner vorausgegangenen Darlegungen kann ein vernunftgemäßes Verständnis dieses Textes in seiner jetzigen Form erreicht werden. Das heißt, wir können, ohne uns dabei auf die religiösen Dogmen der Muslime über diesen Text zu berufen, zeigen, dass dieser Text eine Lesart der Welt im Zeichen des Einheitsglaubens, tawáîd, ist. Meine Darlegungen sind ein Versuch auf diesem Wege, und ich bin überzeugt, dass die historische Kritik dieses Textes ein weiterer Schritt sein wird, um ihn noch genauer zu verstehen
8 Sure 17,82 : „Und wir senden vom Koran hinab, was den Gläubigen Heilung und Barmherzigkeit bringt.“
Sure 2,185: „Der Monat Ramaúân ist es, in dem der Koran herabgesandt wurde als Rechtleitung für den Menschen und als deutliche Zeichen der Rechtleitung und der Entscheidungsnorm.“
Sure 45,20: „Dies sind Einsicht bringende Zeichen für die Menschen und eine Rechtleitung und Barmherzigkeit für Leute, die Gewissehit hegen.“
Sure 10,57: „ O ihr Menschen, zu euch ist nunmehr eine Ermahnung von eurem Herrn gekommen und eine Heilung für euer Inneres, eine Rechtleitung und Barmherzigkeit für die Gläubigen. “
Sure 4,174: „O ihr Menschen, gekommen ist zu euch ein Beweis von eurem Herrn. Und Wir haben zu euch ein offenkundiges Licht hinabgesandt.“
Sure 6,157: „Nunmehr ist ein deutliches Zeichen von eurem Herrn und Rechtleitung und Barmherzigkeit zu euch gekommen.“
9 Sure 17,88: „Sprich: Wenn die Menschen und die Djinn zusammenkämen, um etwas beizubringen, was diesem Koran gleich wäre, sie brächten nicht seinesgleichen bei, auch wenn sie einander helfen würden.“
10 Sure 12,108; Sure 17,5; Sure 23,73; Sure 62,2; Sure 2,213; Sure 7,157; Sure 5,42.
11 Sure 10,2; Sure 21,5; Sure 69,42.
12 Sayyid Muáammad Áusayn Éabâéabâ’î, Islamische Studien (bar rasi-ye islâmi), hrsg. v. Khosroo Šahi, S. 249, o. J.
13 Die detaillierten Bemühungen, eine Antwort auf die Frage nach den verschiedenen Lesarten der Heiligen Schriften des Alten und Neuen Testaments zu finden, haben viel zum Verständnis des Heiligen Buches beigetragen. Klaus Koch zeigt in seiner Studie „Was ist Formgeschichte?“, was die Erforschung der Lesarten der Heiligen Schrift bezweckt und welche neuen Horizonte sie den Forschern eröffnet.
14 J. Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2, Art. „Erscheinung“, Darmstadt 1972, 723.
15 R. Schaeffler, Religion und kritisches Bewusstsein, Freiburg u. a. 1973, 166 f
16 Siehe: E. Coreth, Grundfragen der Hermeneutik. Ein philosophischer Beitrag, Freiburg u. a. 1969, S. 199–221.
17 Siehe: E. Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus, Tübingen 51986.
18 Siehe: W. Weier, Religion als Selbstfindung. Grundlegung einer existenzanalytischen Religionsphilosophie, Paderborn u. a. 1991.
19 H. K. Berg, Ein Wort wie Feuer, München 1991.
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